2.8.3. Biopsychosoziale Zusammenhänge bei Verdauungsstörungen und chronischen viszeralen Schmerzen
Sven Benson 3
1 Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Ruhr-Universität Bochum, Medizinische Fakultät, Bochum, Germany
2 Zentrum für Translationale Neuro- und Verhaltenswissenschaften; Universitätsklinikum Essen, Klinik für Neurologie; Essen; Germany
3 Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie, Universitätsklinikum Essen, Essen, Germany
2.8.3.1. Einleitung
Fast jeder von uns erlebt phasenweise Verdauungsstörungen wie Durchfall, Verstopfung, Blähungen und Bauchkrämpfe. Dafür kann es viele Auslöser geben, wie zum Beispiel ungewohnte oder verdorbene Nahrungsmittel, Medikamente oder Infekte. Stress oder belastende Lebensereignisse (siehe Kap. 2.2.7.), wie beispielsweise eine schwierige Abschlussprüfung, die Trennung von einem langjährigen Partner oder ein scheinbar unlösbarer Konflikt am Arbeitsplatz, können ebenfalls zu Veränderungen der Verdauungstätigkeit führen. Auch Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Völlegefühl und Übelkeit sind häufige gastrointestinale Symptome, die durch psychische Faktoren ausgelöst oder beeinflusst werden können. Diese Alltagserlebnisse sind ein Hinweis auf die enge Verknüpfung zwischen Psyche und Verdauungssystem entlang der ‚Gehirn-Darm-Achse‘, für die es inzwischen viele wissenschaftliche Belege gibt.
Unangenehme Wahrnehmungen oder Symptome aus dem Magen-Darm-Trakt können sehr belastend und sogar bedrohlich sein, auch wenn sie in der Regel nur kurz anhalten und normalerweise nach einiger Zeit von alleine wieder verschwinden. Es gibt jedoch eine große Gruppe von Betroffenen, darunter auch Kinder und Jugendliche, die dauerhaft unter Verdauungsstörungen und Schmerzen aus dem Körperinneren, insbesondere den Eingeweiden (Viszera), leiden. So lag die Prävalenz beeinträchtigender viszeraler Schmerzen bei Erwachsenen in einer repräsentativen deutschen Stichprobe bei bis zu 20% [1]. Vergleichbare Zahlen finden sich auch für Kinder und Jugendliche, wobei Bauchschmerzen bei jüngeren Kindern sogar die häufigste Form von Schmerzen darstellen [2]. Das kann sehr viele unterschiedliche Ursachen haben, die sich auch nicht immer abschließend genau klären lassen. Am häufigsten treten chronische Verdauungsbeschwerden und viszerale Schmerzen im Rahmen funktioneller Magen-Darm-Erkrankungen auf [2]. Diese werden heute als Störungen der Gehirn-Darm-Achse verstanden, und es wird ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell (siehe Kap. 1.) zugrunde gelegt. Daher bedarf es einer interdisziplinären Herangehensweise, wenn man aktuelles Wissen zu normalen und gestörten Funktionen der Gehirn-Darm-Achse gewinnen möchte, denn nur so kann man den komplexen Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren am besten gerecht werden.
2.8.3.2. Gehirn-Darm-Achse und Interozeption
Ein Großteil der für die Verdauung notwendigen motorischen und sekretorischen Funktionen des Magen-Darm-Trakts läuft unbewusst ab und wird durch das lokale Nervensystem des Darms, das Enterische Nervensystem (ENS), reguliert. Daher dringen die meisten gesunden Magen-Darm-Funktionen, abgesehen von überlebensnotwendigen Empfindungen wie Hunger und Sättigungsgefühl, normalerweise nicht in unser Bewusstsein. Dass wir aber durchaus in der Lage sind, verschiedenste weitere Warnsignale aus dem Körperinneren bewusst wahrzunehmen, also die Fähigkeit zur Interozeption (siehe Kap. 2.2.1.) haben, ist evolutionsbiologisch betrachtet ebenfalls überlebensnotwendig. Denn Störungen im Magen-Darm-Trakt, welche beispielweise die Aufnahme von Nährstoffen einschränken, können lebensbedrohlich sein. Die Tatsache, dass bereits eine einzige Lernerfahrung mit einem verdorbenen Lebensmittel ausreichend sein kann, um dieses in Folge für lange Zeit zu vermeiden, illustriert die biologische Relevanz der Interozeption. Biologische Grundlage der vielfältigen, wenn auch sehr unspezifischen (s. im Folgenden) sensorischen Fähigkeiten zur Wahrnehmung viszeraler Funktionen sind spezifische Rezeptoren (siehe Kap. 2.1.). In den unterschiedlichen Schichten der Darmwand befinden sich beispielsweise nach heutigem Kenntnisstand fünf verschiedene Rezeptoren, die auf unterschiedliche Reize reagieren. Bei starker Dehnung werden bestimmte Rezeptortypen aktiviert und leiten Signale über das Rückenmark zum Hirnstamm. Je nach Intensität können diese auch höhere Hirnareale erreichen, ermöglichen uns bewusste Wahrnehmungen und können auch emotionale Reaktionen wie Furcht und Ekel induzieren. Anders als äußere Bereiche des Körpers, wie beispielsweise die Haut, verfügt der Darm nicht über spezifische Rezeptoren für Schmerz (Nozizeptoren, Kap. 2.1.), sodass sich viszeraler Schmerz maßgeblich von Schmerzempfindungen in somatisch innervierten Organen, wie der Haut oder der Muskulatur, unterscheidet. Er wird meist als dumpf und diffus wahrgenommen, ist schwieriger zu lokalisieren und wird als unangenehmer und bedrohlicher empfunden als Schmerz aus anderen Körperregionen. Dies liegt neben den Rezeptoreigenschaften auch daran, dass sich die Verarbeitung viszeraler Signale im Gehirn zum Teil von der Verarbeitung anderer sensorischer Reize unterscheidet, die von der Körperoberfläche ausgehen. Daher unterscheidet man auch die Interozeption von der sogenannten Exterozeption. Schmerzhafte viszerale Reize erreichen höhere schmerzverarbeitende Hirnareale organ-unspezifisch. Sie werden im Gegensatz zu somatischen Signalen nicht im primären, sondern im evolutionsbiologisch älteren sekundären somatosensorischen Kortex (siehe Kap. 2.1.) und im Inselkortex repräsentiert, der über seine vielfältigen Verbindungen zu anderen Hirnarealen im limbischen System emotionale Reaktionen, Lern- und Gedächtnisprozesse sowie Verhaltensänderungen induziert.
Es bestehen nicht nur afferente Signalwege, die vom Magen-Darm-Trakt zum Gehirn führen. Die Gehirn-Darm-Achse, wie in Abbildung 1 schematisch dargestellt, ist bi-direktional, und durch vielfältige efferente Kommunikationswege ist das Gehirn eng mit dem ENS verbunden. Das ENS ist vom autonomen Nervensystem innerviert und verfügt über Immunrezeptoren sowie Rezeptoren für endokrine Botenstoffe der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (siehe Kap. 2.1.). Dies erklärt, warum Stress und Emotionen wie Angst oder Ärger Veränderungen gastrointestinaler Funktionen, wie beispielsweise Durchfall, induzieren können. Die Mechanismen der Gehirn-Darm-Achse sind komplex und vielfältig und werden zunehmend gut verstanden. Störungen der Kommunikationswege, wie sie beispielsweise bei funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen vermutet werden, sind jedoch bislang nur unvollständig verstanden.
2.8.3.3. Funktionelle Magen-Darm-Erkrankungen
Funktionelle Magen-Darm-Erkrankungen sind durch Ober- oder Unterbauchbeschwerden, insbesondere Verdauungsstörungen und viszerale Schmerzen gekennzeichnet. Mit einer Prävalenz von ca. 11% ist das Reizdarmsyndrom (RDS) die häufigste funktionelle Magen-Darm-Erkrankung. Betroffene leiden unter wiederkehrenden Unterbauchschmerzen und einer gestörten Darmtätigkeit mit Durchfällen oder Verstopfung. Im Gegensatz zu den chronisch-entzündlichen Darm-Erkrankungen wie der Colitis Ulcerosa, zeigen herkömmliche diagnostische Verfahren (z.B. Magen- oder Darmspiegelung, Analyse von Stuhl- oder Blutproben) bei funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen keine eindeutigen Auffälligkeiten. Das heißt, es lässt sich keine eindeutige organische Ursache für die Beschwerden identifizieren, es handelt sich bisher also um sogenannte ‚Ausschlussdiagnosen‘. Trotz unauffälliger (‚negativer‘) Untersuchungsbefunde leiden die Betroffenen zum Teil jahrelang und erheblich unter den Beschwerden, die sich oft nicht dauerhaft erfolgreich behandeln lassen. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität (siehe Kap. 3.4.4.) ist daher zum Teil massiv beeinträchtigt. Bei einem hohen Prozentsatz der Betroffenen besteht eine Überlappung mit psychischen Störungen (vgl. Kap. 5.3.), vor allem mit Angststörungen, Depressionen und der somatischen Belastungsstörung [2], [3]. Häufige Arztbesuche und Arztwechsel (doctor hopping) entstehen aus Unzufriedenheit mit dem Gesundheitssystem oder aus Angst, dass etwas ‚übersehen‘ wurde, verbunden mit der Hoffnung auf eine neue, erfolgversprechende Therapie. Die sozioökonomischen Kosten, die durch wiederholte Arztbesuche, wiederholte Diagnoseverfahren, erneute Therapieversuche, Krankschreibungen etc. entstehen, sind enorm [2]. Ein Grund für den Mangel erfolgreicher Behandlungsoptionen ist, dass die Ursachen und Mechanismen bei Störungen der Gehirn-Darm-Achse bislang nur unvollständig verstanden sind. Die Tatsache, dass bisher noch keine spezifische organische Ursache für funktionelle Magen-Darm-Erkrankungen identifiziert wurde, sollte jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass ausschließlich psychologische Einflussfaktoren relevant sind. Sicher ist, dass es multiple Ursachen gibt und dass komplexe Mechanismen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Verdauungsstörungen und viszeraler Schmerzen beteiligt sind. Aus eben diesen Gründen wird ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen am besten gerecht. Aus einer biopsychologischen Perspektive sind dabei unter anderem Stress sowie Veränderungen von Interozeption und Aufmerksamkeitsprozessen von zentraler Bedeutung.
2.8.3.4. Sensorische Prozesse der Interozeption
Dass eine veränderte Wahrnehmung von Signalen aus dem Körperinneren, insbesondere aus dem Darm, eine wichtige Rolle spielt, legt allein schon die Begriffsbildung nahe: Die Bezeichnung als Reizdarm (oder ‚irritierbarer‘ Darm – übersetzt aus dem englischen irritable bowel syndrome, siehe auch Kap. 2.2.1.) verweist schon darauf, dass sensorische Prozesse verändert sein könnten. Wesentliche pathophysiologische Konzepte, die auch im breiteren Kontext der Schmerzforschung wichtig sind, beinhalten die Allodynie und die Hyperalgesie. Als Allodynie wird eine Überempfindlichkeit bezeichnet, bei der unschädliche, nicht schmerzhafte Reize eine Schmerzempfindung auslösen. Die Hyperalgesie ist durch eine erniedrigte Schmerzschwelle und damit verstärkte Reaktion auf schmerzhafte Reize definiert. Beide Konzepte sind für das heutige Verständnis jeglicher chronischer Schmerzerkrankungen, unabhängig von der Modalität oder betroffenen Körperregion, wichtig, wobei die zugrunde liegenden Mechanismen sowohl in der Peripherie (z.B. auf Rezeptorebene) als auch im Gehirn durchaus spezifisch für die jeweilige Schmerzerkrankung sein können. Jüngere Arbeiten zur Schmerzchronifizierung und -aufrechterhaltung befassen sich zudem mit veränderten Aufmerksamkeitsprozessen. Der Begriff der Hypervigilanz (vgl. Kap. 2.2.2.) beschreibt eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Signalen und Prozessen. So werden gastrointestinale Empfindungen offenbar vermehrt als problematisches Symptom einer Erkrankung wahrgenommen, erinnert und dann auch berichtet. Dies hat vermutlich neben Aufmerksamkeitsprozessen auch mit deren Bewertung zu tun, die durch Affektstörungen, emotionalen Stress sowie klassische und instrumentelle Lernprozesse moduliert werden können. Aus psychologischer Perspektive stehen somit Interaktionen zwischen sensorischen, emotionalen und kognitiven Prozessen im Zentrum des Interesses. Die Neurowissenschaften haben sich mit den neurobiologischen Grundlagen befasst, die diesen komplexen Zusammenhängen zugrunde liegen.
2.8.3.5. Hirnprozesse
Verfahren der modernen Hirnbildgebung wie die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ermöglichen die Untersuchung funktioneller Hirnprozesse, die an der Verarbeitung von Schmerzreizen beteiligt sind (siehe Kap. 2.2.2.). Sie liefern somit wichtige Erkenntnisse zu den neurobiologischen Grundlagen der Integration sensorischer, kognitiver und emotionaler Dimensionen des Schmerzgeschehens. Sie haben unser Verständnis der zentralnervösen Prozesse der Interozeption bei Gesunden und Betroffenen mit chronischen viszeralen Schmerzen maßgeblich erweitert. Zusammengefasst gibt es neben gemeinsamen auch spezifische Mechanismen bei der Verarbeitung interozeptiver viszeraler im Vergleich zu exterozeptiven somatischen Schmerzreizen bei Gesunden. Patienten mit RDS weisen im Vergleich zu Gesunden Veränderungen in funktionellen sowie strukturellen Maßen der Hirnbildgebung auf. So zeigen RDS-Betroffene in Reaktion auf experimentell-induzierte viszerale Schmerzen (z.B. Dehnungen des Enddarms) verstärkte neurale Aktivierung insbesondere in Hirnregionen der emotionalen Erregung (emotional arousal), der kognitiven Kontrolle, sowie der endogenen Schmerzmodulation (vgl. Kap. 2.1.), wohingegen bei Gesunden verstärkt Regionen bzw. Netzwerke aktiviert werden, die mit der Schmerzinhibition assoziiert sind [4]. Affektstörungen, akuter Stress (siehe Kap. 2.2.7.), Erwartungen und Lernprozesse modulieren die Wahrnehmung, Bewertung und zentralnervöse Verarbeitung viszeraler Reize und verändern über die efferenten Verbindungen zwischen Gehirn und Magen-Darm-Trakt auch sensorische und motorische Funktionen. Daher sollte bei der Interpretation von Hirnbildgebungsstudien immer berücksichtigt werden, dass zentralnervöse Prozesse maßgeblich durch die genannten psychosozialen Risikofaktoren moduliert werden.
2.8.3.6. Akuter Stress und Emotionen
Zahlreiche gastrointestinale Funktionen können durch akute Stressoren oder Veränderungen des emotionalen Zustands (Ärger, Angst) beeinflusst werden, was in tierexperimentellen Studien und teilweise auch bei Menschen nachgewiesen wurde [5]. Beispiele sind eine stress-induzierte Verzögerung der Magenentleerung und eine Beschleunigung der Dünn- und Dickdarmpassage, eine Stimulation der Säuresekretion und eine gehemmte Durchblutung der Schleimhaut. Diese Effekte treten auch bei Gesunden auf und sind ein eindrucksvoller Beleg für die engmaschige Verknüpfung zwischen Gehirn und Darm. Die Effekte werden durch neuroendokrine und autonome Mediatoren der Stress-Achsen, insbesondere das Corticotropin Releasing Hormone (CRH), vermittelt. Neueste Ansätze zeigen darüber hinaus komplexe Wechselwirkungen von Stress (bzw. Stresshormonen) und dem mikrobiellen Milieu des Darms (Mikrobiom).
Neben Änderungen motorischer Funktionen (Motilität) wird auch die Sensorik beeinflusst. Mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) wurden die neuralen Prozesse untersucht, die dem Einfluss emotionaler Zustandsvariablen, wie akuter Stress oder Angst, auf die viszerale Sensorik zugrunde liegen. Bei Gesunden zeigte sich, dass negative Emotionen oder Stress die Verarbeitung ösophagaler und rektaler Dehnungsreize unter Beteiligung verschiedener Hirnareale wie der Insula, dem Cingulum sowie dem präfrontalen Cortex (vgl. Kap. 2.1.) modifizieren [4]. Dies bedeutet, dass akute Emotionen auch bei Gesunden die zentralnervöse Verarbeitung viszeraler Reize, vermutlich als Teil eines evolutionsbiologisch verankerten Anpassungsprozesses, verändern.
Es ist naheliegend, dass bei Patienten die Modulation der Darmmotorik und Sensorik durch akuten psychologischen Stress oder neuroendokrine Mediatoren der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (siehe Kap. 2.1.) bzw. des autonomen Nervensystems verändert ist. Für sensorische Funktionen gibt es in der Tat experimentelle Belege, dass akuter Stress bei Patienten stärkere Veränderungen der viszeralen Sensitivität oder der Toleranz für viszerale Schmerzreize induziert als bei Gesunden. Bildgebungsstudien stützen dies und legen Veränderungen der zentralnervösen Modulation durch akute Emotionen bei Patienten mit funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen nahe. Daher wird vermutet, dass neben chronischem Stress und Affektstörungen auch akute Emotionen zu viszeraler Hypersensitivität und Hypervigilanz beitragen, unter Beteiligung peripherer und zentralnervöser Mechanismen der Gehirn-Darm-Achse [6].
2.8.3.7. Chronischer Stress und Affektstörungen
Chronische Stressbelastung und Affektstörungen, insbesondere Symptome der Angst und Depression (siehe Kap. 2.2.7.), treten häufig im Zusammenhang mit funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen (sowie auch bei anderen chronischen Schmerzerkrankungen) auf. Ähnliches gilt für eine erhöhte Prävalenz (früh-)kindlicher Missbrauchserfahrungen bzw. Kindheitstraumata. Diese psychosozialen Befunde finden im bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell als Risikofaktoren Berücksichtigung und sind sowohl für den Ausprägungsgrad der gastrointestinalen Symptomatik als auch für Einschränkungen der Lebensqualität und das Krankheitsverhalten (z.B. mangelnde Adhärenz) von großer Bedeutung. Auch für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen wurde ein Einfluss von chronischem Stress auf den Krankheitsverlauf, insbesondere auf die Schubfrequenz sowie auf den Schweregrad von Schüben, in prospektiven Studien nachgewiesen, was nahelegt, dass Stress die Gehirn-Darm-Achse maßgeblich verändert – unabhängig davon, ob es sich um eine funktionelle oder chronisch-entzündliche Erkrankung handelt. Auch bei Gesunden beeinflusst Stress gastrointestinale Funktionen, wie oben beschrieben, sodass die zugrundeliegenden Prozesse zunächst einmal adaptive und ,normale‘ regulative Anpassungsreaktionen auf Stress sind, die der Wiederherstellung des Gleichgewichts (Homöostase, siehe Kap. 2.1.) dienen.
Die Bedeutung psychologischer Veränderungen für die Ätiologie und Pathophysiologie funktioneller Magen-Darm-Erkrankungen ist komplex. Zum einen belegen prospektive Langzeitstudien, dass psychologische Veränderungen Risikofaktoren für die Entstehung und Chronifizierung von Symptomen sind. So erhöhen Angstsymptome, chronischer Stress oder Depressivität die Wahrscheinlichkeit für die spätere Entwicklung einer funktionellen Magen-Darm-Erkrankung bei Personen, die zunächst, d.h. zu Beginn der prospektiven Studie keine Darmsymptome aufwiesen. Andererseits gibt es auch Hinweise, dass psychologische Veränderungen nicht nur vor der Erstmanifestation, sondern auch in deren Folge – also nach dem Auftreten chronischer Darmsymptome – entstehen können. Dauerhafte Darmsymptome und wiederkehrende Schmerzen sind für die Betroffenen belastend und können Alltagstätigkeiten maßgeblich einschränken, was das Risiko für depressive Symptome erhöhen kann. Darüber hinaus gibt es auch neurobiologische Faktoren, insbesondere entzündliche Prozesse, welche zu psychologischen Veränderungen in Folge chronischer Darmsymptome beitragen können.
2.8.3.8. Entzündungsprozesse und Gehirn-Darm-Achse
Aktuelle Studien zur Bedeutung der bakteriellen Zusammensetzung der Darmflora (Mikrobiota) und zu immunologischen Prozessen zeigen, dass biologische Faktoren in der Peripherie über afferente Kommunikationswege im Gehirn die Emotionsregulation (siehe Kap. 2.2.7.), die Schmerzverarbeitung (Kap. 2.1.) und die endogene Schmerzhemmung verändern können. Lokale Entzündungsprozesse, wie sie etwa bei akuten gastrointestinalen Infektionen auftreten, können eine Reihe von Funktionen des Magen-Darm-Trakts beeinflussen und viszeralen Schmerz induzieren. Die Bedeutung von Entzündungsprozessen im Zusammenspiel mit psychologischen Risikofaktoren ist besonders gut für das ‚post-infektiöse RDS‘ belegt [7]. Prospektive Studien dokumentieren hier ein erhöhtes Erkrankungsrisiko durch chronische Stressbelastung und Depressivität. Hinweise auf unterschwellige Entzündungsprozesse wurden inzwischen auch bei RDS-Patienten ohne eine akute gastrointestinale Infektion in der Vorgeschichte gefunden. Hierzu zählen eine erhöhte Dichte von Immunzellen (z.B. Mastzellen) und eine erhöhte Konzentration von Immunbotenstoffen (z.B. pro-inflammatorischen Zytokinen, siehe Kap. 2.1.) in der Darmwand. Pro-inflammatorische Zytokine können wiederum über eine Aktivierung von Neuronen in der Submukosa die Motilität, Absorption, Sekretion und Durchblutung des Darms beeinflussen. Erhöhte Konzentrationen von Entzündungsparametern wurden auch systemisch, d. h. im Blut von RDS-Patienten, nachgewiesen, was durch eine erhöhte Durchlässigkeit (Permeabilität) der Darmmukosa zu erklären ist. Anzunehmen ist, dass zumindest bei einem Teil der Patienten solche lokalen und systemischen Entzündungsprozesse zur Ätiologie bzw. Symptomatik funktioneller aber auch chronisch-entzündlicher Magen-Darm-Erkrankungen beitragen können [2], [5], [7]. Ein zentraler Kommunikationsweg zwischen dem peripheren Immunsystem und dem Gehirn ist der afferente Vagusnerv (siehe Kap. 2.1.). Dieser kann durch pro-inflammatorische Zytokine sensitiviert werden und projiziert über den Nucleus tractus solitarii (NTS) unter anderem zum Hypothalamus, der Amygdala, der Inselrinde und dem anterioren Cingulum (vgl. dazu Kap. 2.1.). Somit können Entzündungsprozesse und viszerosensorische Informationen im Gehirn mit Affekt und Verhalten integriert werden – ein Signalweg, der auch mit den sprichwörtlichen ‚Bauchgefühlen‘ oder gut feelings in Verbindung gebracht wurde.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass psychosoziale Risikofaktoren, insbesondere Stress und Affektstörungen, im Rahmen der Ätiologie und Pathophysiologie des RDS eine wichtige Rolle spielen. Das Reizdarmsyndrom wird vielfach als stress-assoziierte Erkrankung betrachtet. Die Annahme, dass Stress oder Kindheitstraumata als alleinige Erklärungsursachen für die Symptome des RDS fungieren könnte, erweist sich jedoch als vereinfacht. Ausschließlich psychologische Erklärungsansätze werden weder den Betroffenen gerecht, noch entsprechen sie einem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell, welches die (neuro-)biologischen Mechanismen der Gehirn-Darm-Achse zusammenführt und neben zentralnervösen auch periphere Pathomechanismen beinhaltet.
2.8.3.9. Fazit für die Praxis
Eine unabdingbare Grundlage für die erfolgreiche klinisch-therapeutische Arbeit mit RDS-Betroffenen besteht in einer tragfähigen Arzt-Patient-Beziehung (Kap. 4. und 4.3.). RDS-Patientinnen und -Patienten erleben oftmals belastende Symptome, die sich jedoch mit organmedizinischen Verfahren nicht eindeutig erklären oder behandeln lassen. Dies kann zu einer häufigen Inanspruchnahme des Gesundheitssystems sowie zu Arztwechseln aufgrund von Unzufriedenheit, Ängsten oder der Hoffnung auf eine erfolgversprechende Therapie führen. Ein weiterer potentieller Belastungsfaktor besteht darin, dass das RDS (wie alle funktionellen Magen-Darm-Erkrankungen) eine Ausschlussdiagnose ist. Die Diagnosestellung erfordert somit teils invasive und belastende Untersuchungen, die jedoch letztlich keine eindeutige organische Ursache für die Beschwerden ergeben. Für Patientinnen und Patienten bedeutet dies, dass die Diagnostik keine greifbare Erklärung oder eindeutige Therapieoption erbringt, sondern vielmehr mit einer komplexen Erkrankung und der Aussicht auf chronisch-rezidivierende Symptome konfrontiert. Ausgehend von diesen Überlegungen ist es daher von besonderer Bedeutung, neben dem Aufbau einer tragfähigen Arzt-Patient-Beziehung auch ein Grundverständnis des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells und der Gehirn-Darm-Achse zu vermitteln und so die Symptome einzuordnen. Es sollte erläutert werden, dass psychische Faktoren wie Stress oder Affektstörungen nach heutigem Verständnis nicht die alleinige Ursache für das RDS darstellen, sondern vielmehr modulierende Faktoren sind. Die Symptome als Erkrankung der Gehirn-Darm-Achse zu erklären, kann mögliche Scham- oder Schuldgefühle sowie irrationale Sorgen nehmen, dass gastrointestinale Symptome als Form oder Ausdruck einer ‚psychischen Erkrankung‘ fehlverstanden werden. Zugleich sind Anzeichen psychischer Komorbiditäten zu beachten, um gegebenenfalls eine adäquate Diagnostik und Therapie einzuleiten. Subjektive Krankheitstheorien sollten erfragt und besprochen werden, um maladaptives Krankheitsverhalten, wie etwa das Einhalten nicht indizierter Diäten, zu reduzieren. Hierbei sind eine patientenzentrierte Gesprächsführung und eine partizipative Entscheidungsfindung (vgl. Kap. 4.2.) von wesentlicher Bedeutung für eine erfolgreiche Therapie.
References
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