Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


5.3.1. Allgemeine Grundlagen psychotherapeutischer Interventionen

 Bernhard Strauß 1


1 Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie (IPMPP), Universitätsklinikum Jena, Jena, Germany

5.3.1.1. Definition und Rahmenbedingungen von Psychotherapie

Psychotherapie, als eine Form der Krankenbehandlung primär seelischer Störungen, wird wie folgt definiert [1]:

  • als bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die
  • in einem Konsens (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden und
  • mit psychologischen Mitteln (d.h. durch Kommunikation), meist verbal, aber auch nonverbal,
  • in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit, aber auch Prävention) behandelbar sind.
  • In der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung notwendig.
  • Auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens ist Psychotherapie mittels lehrbarer Technik vermittelbar.

Psychotherapieverfahren sind wissenschaftlich begründet, in der Regel empirisch geprüft und werden auf der Grundlage qualifizierter Diagnostik und Differentialindikation durch professionelle Psychotherapeuten mit einer geprüften beruflichen Qualifikation eingesetzt [2]. Mittlerweile werden zwar mehr als 250 psychotherapeutische Methoden unterschieden, viele dieser Methoden sind aber Derivate lange etablierter wissenschaftlicher Psychotherapieverfahren. Psychotherapeutische Ansätze unterscheiden sich primär nach den zugrundeliegenden theoretischen Modellen (z.B. psychodynamische oder Verhaltensmodelle) und daraus abgeleiteten Interventionsstrategien und -techniken. Sie können ferner nach dem Behandlungssetting unterteilt werden, z.B. nach ihrer Dauer (kurzzeitige Krisenintervention, Kurztherapie, Langzeittherapie) oder nach ihrer spezifischen Anwendungsform (Einzel-, Paar-, Familien- oder Gruppenpsychotherapie; ambulante vs. stationäre vs. teilstationäre Psychotherapie).

In der BRD wurde 1967 zunächst die tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie zu einer Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenversicherung erklärt. Die Verhaltenstherapie wurde 1987 vollständig in den Leistungskatalog aufgenommen. Neben den Verfahren wurden in letzter Zeit auch weitere Methoden anerkannt, so z.B. das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) zur Behandlung von Traumafolgestörungen sowie neuropsychologische Methoden als Ansatz zur Kompensation von kognitiven, emotionalen, motivationalen Störungen bei neurodegenerativen Störungen und Hirnverletzungen. Die Anwendung psychotherapeutischer Methoden und Verfahren ist geregelt in der sog. Psychotherapievereinbarung und den Psychotherapierichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung [3].

Die Richtlinien bestimmen die sozialrechtlichen Rahmenbedingungen psychotherapeutischer Interventionen, wohingegen die berufsrechtlichen Aspekte seit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes von 1999 (s.u.) durch den sog. Wissenschaftlichen Beirat der Bundespsychotherapeuten- und der Bundesärztekammer festgelegt werden. Dieses aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Bereich der psychologischen und der ärztlichen Psychotherapie bestehende Gremium berät die hierfür zuständigen Länder bei der Frage, welche psychotherapeutischen Verfahren und Methoden (siehe Kasten) als wissenschaftlich fundiert gelten.

 

Psychotherapieverfahren

Ein zur Krankenbehandlung geeignetes Psychotherapieverfahren ist gekennzeichnet durch eine umfassende Theorie der Entstehung und Aufrechterhaltung von Krankheiten und ihrer Behandlung, darauf bezogene psychotherapeutische Behandlungsstrategien für ein breites Spektrum von Anwendungsbereichen und darauf bezogene Konzepte zur Indikationsstellung, individuellen Behandlungsplanung und therapeutischen Beziehungsgestaltung. Das Psychotherapieverfahren verfügt über Methoden, mit deren Hilfe die Indikationskriterien und deren diagnostische Erfassung, die verfahrensspezifische Vorgehensweise und die angestrebten Behandlungseffekte beschrieben werden können. Unter psychotherapeutischer Technik wird die konkrete Vorgehensweise verstanden, mit deren Hilfe die angestrebten Ziele im Rahmen der Anwendung von psychotherapeutischen Methoden und Verfahren erreicht werden sollen.

Therapie vs. Beratung

Um die Abgrenzung von Beratung und Psychotherapie gibt es rege Diskussionen. In beiden Fällen ist die Basis eine professionelle Helferbeziehung, die auf wissenschaftlichen Konzepten basiert. Beide Ansätze zielen darauf ab, eine positive Entwicklung zu fördern. Sowohl in der Psychotherapie als auch in der Beratung spielen allgemeine Wirkfaktoren der Psychotherapie (z.B. das Erleben einer hilfreichen Beziehung) eine große Rolle, ebenso gibt es Überschneidungen bezüglich der benutzten Gesprächs- und Interventionstechniken. Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, dass, anders als bei der Psychotherapie, Beratung keine Krankenbehandlung ist. Stattdessen fokussiert sie auf Fragen und Problemstellungen, die keinen Krankheitswert haben und für die die Beratenden Spezialisten sind (z.B. Fragen zu Erziehungsberatung, Ehe- und Partnerschaftsberatung, Coaching).

Approbation

Mit der zunehmenden Anerkennung psychotherapeutischer Methoden als heilkundliche Verfahren wurden gesetzliche Regelungen zur Sicherung eines Qualitätsstandards in der Psychotherapie notwendig. Obwohl sie sich auf klinisch-psychologische Theorien und Befunde stützt, wurde die Psychotherapie ursprünglich als eine medizinische Behandlungsmethode aufgefasst. Erst 1999 trat das Psychotherapeutengesetz in Kraft, das eine weitgehende Gleichberechtigung von Ärzten und Psychologen festlegt und die Bezeichnung ‚Psychotherapeut‘ (allerdings nicht ‚Psychotherapie‘) gesetzlich schützt. Die Berechtigung zur Ausübung von Psychotherapie resultiert danach aus einer in der Regel methodenspezifischen mehrjährigen Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten resp. zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder aus einer spezifischen Facharztweiterbildung auf den Gebieten Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie bzw. Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (ehemals Psychotherapeutische Medizin). Das Gesetz sieht für die postgraduale Ausbildung von Psychologinnen und Psychologen zur Psychotherapie 600 Std. Psychotherapietheorie, 1.800 Stunden praktische Tätigkeit (davon 1.200 Std. in einer psychiatrischen Klinik), 600 Behandlungsstunden unter Supervision (mindestens 150 Std.) sowie 120 Std. Selbsterfahrung vor. Die Approbation wird aktuell noch nach der Ausbildung und nach bestandener staatlicher Prüfung (schriftlich und mündlich) erteilt.

2019 erfolgte eine Reform der Psychotherapieausbildung, der zufolge ab dem 1. September 2020 die Approbation nach einem Studium der Psychotherapie (bestehend aus einem polyvalenten Bachelorstudium der Psychologie, gefolgt von einem Masterstudium der Psychotherapie) erteilt wird. Für beide Studienabschnitte gilt eine Approbationsordnung. In Analogie zur Ärzteweiterbildung folgt nach dem Studium berufsbegleitend eine mehrjährige Weiterbildung in einem der psychotherapeutischen Verfahren [4].

Die Facharztbezeichnungen, die zur Psychotherapie bei Erwachsenen befähigen, umfassen ebenfalls Theoriestunden und 60 Monate praktischer Tätigkeit (für den Facharzt für Psychiatrie 24 Monate in einer psychiatrischen und 12 Monate in einer neurologischen Einrichtung; für den Facharzt für Psychosomatische Medizin 36 Monate in der Psychosomatischen Medizin, 12 Monate in der Psychiatrie und 12 Monate in der Inneren Medizin oder der Allgemeinmedizin). Dazu kommen Behandlungsstunden unter Supervision (1.500 in der Psychosomatischen Medizin, 240 in der Psychiatrie) sowie 120 Stunden Einzel- plus 40 Doppelstunden Gruppenselbsterfahrung in der Psychosomatischen Medizin bzw. 120 Stunden Selbsterfahrung inklusive 40 Doppelstunden Gruppenselbsterfahrung. Die Weiterbildung endet mit einer Facharztprüfung, die von den lokalen Ärztekammern organisiert wird [5].

Fachärzte und Psychologische Psychotherapeuten bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten haben mit der Approbation die gleiche Zulassung zum Heilberuf. Daneben gibt es eine weitere Erlaubnis zur Heilkunde in Deutschland, die im „Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz, HPG)“ von 1939 festgelegt ist. Wer diese Erlaubnis hat, darf ebenfalls heilkundlich Psychotherapie ausüben (z.B. ausgebildete Psychologen mit Heilkunde-Erlaubnis, Heilpraktiker), den gesetzlich geschützten Begriff ‚Psychotherapeut‘ aber nicht verwenden. Für diese Personen wird keine bzw. nur wenig therapeutische Qualifikation verlangt, ihre Leistungen können nicht mit den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden.

Arbeitsfelder (Niederlassung, Fachklinik, Konsiliar- und Liaisondienste)

Gemäß dem Bundesarztregister boten Ende 2017 etwas mehr als 6.000 Ärztliche und über 25.000 Psychologische und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (davon 18.756 Frauen!) im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung Leistungen als niedergelassene Psychotherapeuten an. Nach einer Statistik aus dem Jahr 2012 [6] waren zum damaligen Zeitpunkt in Krankenhäusern 7.621 Fachärzte mit psychotherapeutischem Schwerpunkt sowie 5.468 Psychologische oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten angestellt. Diese Zahlen beziehen sich primär auf Rehabilitationskliniken (vornehmlich Psychosomatische und neurologische Rehakliniken) sowie Akutkrankenhäuser und Fachkliniken. Eine psychotherapeutische Versorgung von Patienten in allgemeinen Krankenhäusern wird über sog. Konsiliar- und Liaisondienste angeboten. Im Rahmen des Konsiliardienstes wird von den behandelnden Ärzten auf der Station psychotherapeutische Unterstützung für den Patienten ‚von außen‘ angefordert, im Rahmen des Liaisondienstes ist psychotherapeutisch geschultes Personal fester Bestandteil des jeweiligen Teams. Es nimmt etwa im Kontext psychoonkologischer Betreuung (vgl. Kap. 5.4.2.) an der Behandlung von Tumorpatienten teil. Solche Betreuungsmodelle sind insbesondere an Universitätsklinika anzutreffen, finden aber auch vermehrt in Krankenhäusern der Regelversorgung Anwendung.

5.3.1.2. Geschichte der Psychotherapie

Wie die meisten Behandlungsmethoden in der Medizin hat auch die Psychotherapie Wurzeln, die bis in die Antike und weiter zurückreichen. In gewisser Hinsicht sind auch die Heilungsrituale vorzeitlicher Medizinmänner und -frauen sowie Schamanen, in denen beispielsweise Prinzipien der Suggestion bedeutsam waren, Vorläufer psychotherapeutischer Methoden. Die heilende Kraft des Wortes wird schon in vielen antiken Schriften beschrieben.

Abbildung 1: Stammbaum der Psychotherapie und ihrer Schulen: Tiefenpsychologie, Systemische Modelle und verhaltenstherapeutische Ansätze bilden die Basis für die aktuellen Richtlinienverfahren der Psychotherapie (Aus: Slunecko 2017, S. 55, nach Stumm 2014 mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Die Abbildung ist von der CC-BY 4.0 Lizenzierung ausgenommen.)
Abbildung 1: Stammbaum der Psychotherapie und ihrer Schulen: Tiefenpsychologie, Systemische Modelle und verhaltenstherapeutische Ansätze bilden die Basis für die aktuellen Richtlinienverfahren der Psychotherapie (Aus: Slunecko 2017, S. 55 [7], nach Stumm 2014 [8] mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Die Abbildung ist von der CC-BY 4.0 Lizenzierung ausgenommen.)

Die Geschichte der Psychotherapie im engeren Sinne beginnt erst im 19. Jahrhundert: Aufbauend auf verschiedenen Methoden der Suggestion wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hypnose zu einem in der Medizin anerkannten Verfahren. Sigmund Freud (1856–1939), dem Begründer der Psychoanalyse, war das „Kupfer der direkten Suggestion“ in der hypnotischen Methode nicht genug. In Kooperation mit dem Allgemeinarzt Joseph Breuer entwickelte er ab Ende des 19. Jahrhunderts seine Methode der Psychoanalyse, die heute als die älteste der etablierten psychotherapeutischen Grundorientierungen gilt. Aus der von Freud entwickelten „Urform“ der Psychoanalyse haben sich mehrere Abwandlungen entwickelt (vgl. Abbildung 1). Der Abbildung sind enge Bezüge der psychoanalytischen Verfahren zu Psychotherapiemethoden aus der Tradition der Humanistischen Psychologie zu entnehmen. Für deren Entwicklung steht im Wesentlichen Carl Rogers (1902–1987), der Begründer der klienten- (heute: personen-) zentrierten Psychotherapie, dessen Ausgangspunkt das Menschenbild der Humanistischen Psychologie ist, nämlich das eines im Kern gesunden und schöpferischen Menschen, der nach innerem Wachstum und Selbstverwirklichung strebt (fully functioning person, siehe auch Kapitel 5.3.4.).

In den frühen 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine dritte Hauptrichtung der Psychotherapie, die sich an den Forschungsergebnissen der Allgemeinen Psychologie, speziell der Lernpsychologie, orientierte und – wegen ihrer zunächst primär am beobachtbaren Verhalten ausgerichteten Sichtweise – als Verhaltenstherapie bezeichnet wurde. In den 70er-Jahren erfolgte dann durch die vermehrte Einbeziehung von Kognitionen in die Behandlungskonzeption und -durchführung die sog. ‚kognitive Wende‘ in der Verhaltenstherapie, die von da an die Bezeichnung ‚kognitive Verhaltenstherapie‘ oder ‚kognitiv-behaviorale Therapie‘ erhielt.

Gleichzeitig entwickelte sich das vierte Psychotherapieverfahren, die Systemische Therapie, als Ergänzung der bis dato vor allem individuumszentriert arbeitenden Psychoanalyse. Es wurde damit auch nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten für Patienten gesucht, die trotz kompetenter Behandlung nur wenig von Psychotherapie profitierten. Ein bedeutsamer Unterschied der Systemischen Therapie zu den anderen Verfahren besteht in der Fokussierung auf dysfunktionale familiäre und soziale Muster und damit im Einbezug des vor allem biologisch und legal definierten Herkunftssystems.

Die 1970er- und 1980er-Jahre des 20. Jahrhunderts stellen den Beginn einer Differenzierung und Diversifikation psychotherapeutischer Methoden dar, die zu der oben erwähnten Vielzahl an Psychotherapieformen geführt hat. Dies – wie Entwicklungen der Psychotherapie im Allgemeinen – ist vor dem Hintergrund soziokultureller Veränderungen verständlich. Eine zunehmende Individualisierung und Kultivierung der Subjektivität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat psychotherapeutische Behandlungen, die sich lange schwer gegen einen naturwissenschaftlich biologischen Mainstream in der Medizin zu behaupten hatten, salonfähiger gemacht und einen „Psychoboom“ mitverursacht. Die vermutlich größten Entwicklungen – im Sinne einer Integration vielfältiger Aspekte anderer Verfahren und von Ansätzen, die nicht genuin verhaltenstherapeutisch sind (z.B. achtsamkeitsbasierte oder spirituelle Methoden) – erlebte die Verhaltenstherapie in einer Phase, die gemeinhin mit dem Begriff ‚Dritte Welle der Verhaltenstherapie‘ bezeichnet wird.

5.3.1.3. Allgemeine Wirksamkeit und Wirkprinzipien von Psychotherapie

Zahlreiche Metaanalysen bestätigen die sehr gute Wirksamkeit von Psychotherapie (vgl. Abbildung 2). Dabei ergeben sich bezogen auf unterschiedliche Psychotherapiemethoden und in Abhängigkeit vom Störungsbild unterschiedliche Effektstärken (s.u.). Trotz einer positiven Bilanz der Wirksamkeitsforschung gibt es aber noch eine ganze Reihe von Einschränkungen bzgl. der Wirksamkeit von Psychotherapie: Sowohl in klinischen Studien, aber auch in der Alltagspraxis gibt es nicht unbeträchtliche Raten an Zustandsverschlechterungen. Die Remissionsraten liegen in der Psychotherapie zwischen 30 und 50%.

Abbildung 2: Effektivität von Psychotherapie gegenüber spontaner Remission (eigene Abbildung nach McNeilly 1991)
Abbildung 2: Effektivität von Psychotherapie gegenüber spontaner Remission (eigene Abbildung nach  [9])

Je nach Veränderungsbereich bedarf es unterschiedlichen zeitlichen Aufwandes, um klinisch bedeutsame Effekte zu erzielen. Als theoretisches Modell hierzu wurde das sog. ‚Phasenmodell psychotherapeutischer Veränderung‘ vorgeschlagen und empirisch überprüft. Allgemein wird in diesem Modell davon ausgegangen, dass der Prozess der ‚psychischen Restitution‘ in umgekehrter Reihenfolge und umgekehrter Wirkung jene Phasen durchläuft, die bei der Entstehung psychischer Störungen relevant sind. Dies bedeutet, dass in Psychotherapien nach kürzerer Zeit – oft schon nach der ersten Sitzung – mit einer Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens zu rechnen ist, weil die Betroffenen wieder Hoffnung schöpfen und in einen Zustand der Remoralisierung geraten. Größerer psychotherapeutischer Aufwand ist notwendig, damit sich an der Symptomatik etwas zu ändern beginnt und eine Remediation im Sinne des Modelles eintritt. Schließlich bedarf es eines unterschiedlich hohen Aufwandes, um betroffene Psychotherapiepatienten zu ‚rehabilitieren‘, womit gemeint ist, dass sie letztlich ihre Funktionsfähigkeit in unterschiedlichen und relevanten Lebensbereichen wieder erreichen.

Allgemeine Wirkprinzipien von Psychotherapie

Die relativ geringen Unterschiede zwischen den Psychotherapieformen könnten dadurch zu erklären sein, dass es allgemeine Wirkfaktoren in der Psychotherapie gibt. Basierend auf den zahlreichen Befunden der Psychotherapieforschung formulierte Klaus Grawe [10] als allgemeine Wirkprinzipien der Psychotherapie:

  • Ressourcenaktivierung (d.h. Anknüpfen an die positiven Möglichkeiten, Eigenarten, Fähigkeiten und Motivationen der Patienten einschließlich des Beziehungsverhaltens)
  • Problemaktualisierung oder ‚Prinzip der realen Erfahrung‘ (d.h. Veränderung durch ‚reales Erleben von Bedeutungsveränderungen im Therapieprozess‘)
  • Aktive Hilfe zur Problembewältigung (d.h. aktive Unterstützung der Patienten im Umgang mit Problembereichen)
  • Motivationale Klärung der Bedeutungen des Patientenerlebens und -verhaltens im Hinblick auf bewusste und unbewusste Ziele und Werte sowie Förderung von Einsicht

Nachdem die allgemeine Wirkung von Psychotherapie mittlerweile gut belegt ist (die entsprechenden Effektstärken für die Wirkung der Psychotherapie gegenüber Kontrollgruppen wird mit Es~.80 beziffert), nimmt sich die Psychotherapieforschung seit langem auch der Frage an, welche Prozessmerkmale mit welchem Ergebnis der Therapie einhergehen. Wampold und Kollegen [11] haben in einer Übersicht über den Stand der „großen Psychotherapiedebatte“ gezeigt, dass wir nach etlichen Jahrzehnten systematischer Psychotherapieforschung „ziemlich sicher wissen“, dass kontextuelle Faktoren im Psychotherapiebereich am deutlichsten mit dem Therapieergebnis zusammenhängen. Unter solch kontextuellen Faktoren verstehen die Autoren Variablen wie die therapeutische Allianz, Empathie, Wertschätzung und Kongruenz/Echtheit, aber auch positive Erwartungen an die Therapie, die Aufklärung über die Störung und einen Konsens zwischen Therapeuten und Patienten bezüglich der Therapieziele. Für viele dieser Faktoren gibt es mittlerweile Metaanalysen, die zeigen, dass der Effekt der genannten Variablen, aber auch der Einfluss der Person des Therapeuten, mit mittleren bis ausgeprägten Effektstärken beschreibbar ist (die in dieser Zusammenschau [11] zwischen .35 und .75 schwanken). Demgegenüber sind die Effekte spezifischer Techniken, der exakten Realisierung eines Therapiemanuals (Adhärenz) oder der Kompetenz eines Therapeuten für eine spezifische Therapietechnik ebenso gering (mit Effektstärken nahe Null) wie die Stärken der Effekte beim Vergleich unterschiedlicher psychotherapeutischer Behandlungen. Dies spricht nach Wampold und Kollegen [11] gegen ein ‚medizinisches‘ Modell (eine spezifische Intervention für eine spezifische Störung) und für das o.g. kontextuelle Modell von Psychotherapie.


References

[1] Strotzka H. Psychotherapie: Grundlagen, Verfahren, Indikationen. München: Urban & Schwarzenberg; 1975.
[2] Senf W, Broda M. Was ist Psychotherapie. In: Senf W, Broda M, editors. Praxis der Psychotherapie: ein integratives Lehrbuch: Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Systemische Therapie. Stuttgart: Thieme; 2000. S. 2-7. DOI: 10.1055/b-001-1086
[3] Dieckmann M, Dahm A, Neher M, editors. Faber/Haarstrick – Kommentar Psychotherapie-Richtlinien. 11th rev. ed. München: Urban & Fischer; 2017.
[4] Bundesministerium für Gesundheit. Moderne Ausbildung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. 2019 Sep 27 [Cited 2021 Sep 9]. Available from: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/psychotherapeutenausbildung.html
[5] Bundesärztekammer. (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018. 2021 Jun 26 [Cited 2021 Sep 9]. Available from: https://www.bundesaerztekammer.de/aerzte/aus-weiter-fortbildung/weiterbildung/muster-weiterbildungsordnung/
[6] Deutsche Krankenhausgesellschaft. Krankenhausstatistik [zitiert nach de.statista.com]. 2012 [Cited 2020 Sep 18]. Available from: https://de.statista.com/statistik/studie/id/13025/dokument/dkg-krankenhausstatistik-2012/
[7] Slunecko T, editor. Psychotherapie. Eine Einführung. 2nd rev. ed. Stuttgart, Wien: UTB facultas; 2017. p. 55.
[8] Stumm G, editor. Psychotherapie: Schulen und Methoden. Eine Orientierungshilfe für Theorie und Praxis. 3rd. rev ed. Wien: Falter; 2014.
[9] McNeilly CL, Howard KI. The effects of psychotherapy: a reevaluation based on dosage. Psychotherapy Research. 1991;1(1):74-8. DOI: 10.1080/10503309112331334081
[10] Grawe K. Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe; 1998.
[11] Wampold BE, Imel ZE, Flückiger C. Die Psychotherapie-Debatte. Was Psychotherapie wirksam macht. Bern: Hogrefe; 2018.