2.4. Entwicklung und Sozialisation im Lebenslauf
Matthias Richter 2
1 Fachbereich Psychologie, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland
2 Institute of Medical Sociology (IMS), Martin Luther University Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland
Montagmorgen in der hausärztlichen Praxis: Der Warteraum ist um 8.30 Uhr schon gut gefüllt. Einige ältere Personen sitzen geduldig auf den Stühlen; sie sind im Ruhestand und haben es offenbar nicht eilig. Ein gut gekleideter Patient im mittleren Alter schaut häufig auf die Uhr, wird immer wieder von Hustenanfällen geplagt. Zwei Jugendliche mit Kopfhörern halten sich an den Händen, der Junge wippt im Takt mit den Füßen, das Mädchen sitzt gekrümmt und scheint Bauchschmerzen zu haben. Ab und zu schauen die Wartenden auf, wenn das Kleinkind auf dem Schoß der Mutter jammert und weint, während der ältere Bruder im Kindergartenalter unvermittelt zwischen Spielecke und der Mutter hin- und herrennt. Alle werden in Kürze dem Arzt/der Ärztin ihre Sorgen und Beschwerden vortragen und erwarten neben Hilfe auch Verständnis für ihre jeweilige Lebenssituation.
Die folgenden vier Kapitel vermitteln nützliche Kenntnisse und Informationen über psychosoziale Prozesse in verschiedenen Lebensaltern, indem deren Gesetzmäßigkeiten und Besonderheiten im Laufe der menschlichen Entwicklung erläutert werden. Mit diesen Informationen soll eine Grundlage dafür gelegt werden, im Umgang mit Patienten verschiedenen Alters und bei der Entscheidung über medizinische Maßnahmen den individuellen Entwicklungskontext berücksichtigen zu können. Ein „riskanter Lebensstil“ zum Beispiel kann für ein Kleinkind darin bestehen, seine Kompetenzen zu überschätzen und häufiger Knochenbrüche zu erleiden. Für den Jugendlichen mag sich Risikoverhalten in Alkohol- oder Drogenmissbrauch zeigen und beim Erwachsenen in der Vernachlässigung der eigenen Gesundheit infolge hoher Arbeitsbelastung. Solche Faktoren zu kennen, erweitert die eigene Beurteilungsperspektive und hilft dabei, Fehleinschätzungen zu vermeiden.
Die Kapitel stellen einen Überblick über die Entwicklung des Erlebens und Verhaltens während der gesamten Lebensspanne dar. Sie behandeln die frühe Kindheit, die Adoleszenz, das Erwachsenenalter und das höhere Alter als Abschnitte des Lebens, deren Einteilung nicht willkürlich ist, für deren Eingrenzung es keine festen Kriterien, sondern jeweils biologische, psychologische und soziale Faktoren gibt. Entwicklung wird dabei als Veränderung und Wandel verstanden; Entwicklung kann Zuwachs, Modifikation oder Differenzierung, aber auch Verschwinden von Merkmalen und Kompetenzen oder deren Substitution bedeuten: Entwicklung über die Lebensspanne verläuft kontinuierlich. Abschnitte und Übergänge sind mehr durch psychologische und soziologische Bedingungen gekennzeichnet als durch spezifische biologische Ereignisse. Entwicklung wird als Zusammenspiel biologischer Veränderungen und Anpassungen an die Umwelt verstanden, wobei zu Beginn und zum Ende des Lebens biologische Einflüsse deutlicher Erleben und Verhalten prägen als im Erwachsenenalter. So berichten die vier Kapitel jeweils über körperliche Prozesse, die in den behandelten Lebensabschnitten charakteristisch sind. Gesundheit und (alterstypische) Erkrankungen sind jedoch mit den psychosozialen Anforderungen in diesen Lebensabschnitten verbunden und führen zu besonderen Herausforderungen für den Patienten und damit auch für den behandelnden Arzt/die behandelnde Ärztin.
In Kapitel 2.4.1. (Schwangerschaft und frühe Kindheit) wird erläutert, wie wichtig das Thema „Bindung“ für junge Kinder ist, da sie von der Pflege und Zuwendung ihrer Bezugspersonen abhängig sind. Über die kognitive Entwicklung gewinnen sie zunehmend an Selbstständigkeit, sind aber noch lange auf den Schutz und die Hilfe anderer angewiesen. Belastungen und Stress, den junge Kinder nicht alleine bewältigen können, machen das Kind vulnerabel (anfällig) für Erkrankungen. Aber auch Belastungen der Mutter können ein Risiko für die gesunde kindliche Entwicklung bedeuten. Kapitel 2.4.2. (Adoleszenz) stellt die Verbindung zwischen den körperlichen Veränderungen im Jugendalter (Pubertät) und vier wichtigen „Entwicklungsaufgaben“ dar, die die Jugendlichen lösen müssen, um den Übergang ins Erwachsenenleben und die damit verbundenen Pflichten und Möglichkeiten angemessen nutzen und erfüllen zu können. Von alterstypischen Anforderungen, hier vor allem in Verbindung mit Berufsleben und Verantwortung für die Familie, spricht auch Kapitel 2.4.3. (Junges und mittleres Erwachsenenalter). Der Einfluss von Belastungen und (beruflichem) Stress und von „Krisen“ im Zusammenhang mit eigenen Rollenerwartungen, aber auch von Sport und Ernährung auf die Gesundheit wird analysiert und wichtige Untersuchungsergebnisse dazu werden dargestellt. Schließlich informiert Kapitel 2.4.4. (Höheres Lebensalter) über die verschiedenen Abschnitte, Formen und Dimensionen des Älterwerdens und Alters. Es verbindet die alterstypischen biologischen Veränderungen und Erkrankungen mit psychosozialen Theorien des Alterns und berücksichtigt die vielfältigen Lebenssituationen alter Menschen, die zwischen Selbstständigkeit bis zum Lebensende und Angewiesenheit auf Unterstützung und Pflege – ähnlich wie im frühesten Kindesalter – liegen können.