5.3.3. Verhaltenstherapeutische Verfahren
1 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Halle/S., Halle, Germany
5.3.3.1. Begriffsbestimmung und Grundsätze
Als Verhaltenstherapie wird eine Gruppe auf der empirischen Psychologie beruhender psychotherapeutischer Verfahren bezeichnet. Sie transferiert die wissenschaftlich belegten Erkenntnisse allgemeinpsychologischer Grundlagenforschung (siehe Kapitel 2.2.) in einen klinisch-psychologischen Behandlungsansatz.
Dabei fokussiert sie das Hier und Jetzt, d.h. es wird eine Veränderung der Verhaltens- und Erlebensmuster angestrebt, die aktuell Störungscharakter haben, in diesem Sinne also dysfunktional sind. Während die klassische Verhaltenstherapie allein das sichtbare Verhalten und seine auslösenden Bedingungen und nachfolgenden Konsequenzen in Augenschein nimmt, wendet sich die kognitive Verhaltenstherapie auch den Gedanken, Gefühlen und Bewertungen des Patienten zu, die sie ebenfalls als ein (in diesem Fall innerpsychisches) Verhalten interpretiert. Insbesondere die Annahmen der Lerntheorie (siehe Kapitel 2.2.3.), der Persönlichkeitstheorie (Kapitel 2.4.), der Emotionstheorie und der Stressverarbeitung (Kapitel 2.2.7 und 3.2.1.) werden vor dem Hintergrund biopsychologischer Erkenntnisse genutzt, um prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen der seelischen Erkrankung der Betroffenen zu verstehen.
Im therapeutischen Prozess werden konkrete und operationalisierte Ziele verfolgt. Diese Ziele leiten sich aus individuellen Störungsanalysen ab, werden zwischen Therapeuten und Patienten transparent vereinbart und sind an Minimierung symptomatischer Belastung orientiert.
Therapeut und Patient suchen gemeinsam nach einem Weg, die innerpsychischen und/oder sichtbaren Verhaltensmuster, die die Störung definieren oder ihr Vorschub leisten, zu verändern. Aufgrund dieser strikten Fokussierung auf konkrete Verhaltensänderungen und der permanenten empirisch überprüften Weiterentwicklung der angewendeten kommunikativen und übungsbasierten Techniken sind verhaltenstherapeutische Interventionen in der Regel vergleichsweise kurz zu veranschlagen. Kurzzeittherapien umfassen bis zu 24 Sitzungen. Jedoch sind auch Langzeitverhaltenstherapien mit bis zu 80 Sitzungen in der Praxis nicht unüblich.
Dabei ist eine Verhaltenstherapie nicht auf das therapeutische Setting begrenzt, der Patient wird stets dazu angehalten, neue Erkenntnisse und Handlungsoptionen außerhalb der Therapie zu prüfen und zu erproben. Die Therapie will also auch ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ sein, indem sie dem Patienten Strategien vermittelt, wie er in Zukunft problematische Verhaltensmuster selbst verändern oder von vorneherein vermeiden kann.
5.3.3.2. Allgemeines Vorgehen
Die Behandlung folgt einem verhaltenstherapeutischen Prozessmodell [1]:
1. Phase: In der Verantwortung des Therapeuten liegt es, eine tragfähige therapeutische Beziehung zum Patienten aufzubauen. Hier kommen i.d.R. die gesprächspsychotherapeutischen Grundlagen nach Rogers [2] zur Anwendung, um möglichst günstige Ausgangsbedingungen für den anschließenden therapeutischen Prozess zu schaffen (siehe auch Kapitel 5.3.4.).
2. Phase: Therapeut und Patient erarbeiten gemeinsam, welche Verhaltensbereiche verändert werden sollen (vorläufige Auswahl von Änderungsbereichen) und warum dies langfristig günstig wäre (Aufbau von Veränderungsmotivation). Ebenso werden Hindernisse identifiziert, die dem Erreichen der Therapieziele entgegenstehen.
3. Phase: Die Frage nach Auslösern und aufrechterhaltenden Bedingungen für die Erkrankung wird in dieser Therapiephase adressiert. Mittels Verhaltensbeobachtungen entwickeln Therapeut und Patient eine Verhaltensanalyse und ein individuelles Bedingungsmodell für das dysfunktionale Verhalten. Aufgrund der zentralen diagnostischen und therapieleitenden Bedeutung der Verhaltensanalyse widmen wir ihr das nachfolgende Unterkapitel 5.3.3.3.
4. Phase: Ausgehend von der Verhaltensanalyse werden spezifische therapeutische Ziele vereinbart.
5. Phase: Die Planung und Durchführung spezieller Therapiemethoden umfasst z.B. die Anleitung von Entspannungsverfahren, die Durchführung von Expositionstrainings (siehe unten) sowie den Einsatz von Rollenspielen und Trainings sozialer Kompetenzen. Falls erforderlich, werden zudem Problemlösetrainings und kognitive Verfahren, Interventionen zur Emotionsregulation und Verfahren zum Selbstmanagement angewendet. Einige dieser Techniken werden übersichtsartig in nachfolgenden Abschnitten (5.3.3.5., 5.3.3.6.) aufgegriffen.
6. Phase: Da sie sich am empirisch Messbaren orientiert, dokumentiert und evaluiert die Verhaltenstherapie den therapeutischen Fortschritt anhand standardisierter Fragebögen und Interviews. Mit deren Hilfe wird die Entwicklung der Symptomstärken fortlaufend beurteilt.
7. Phase: Aufgrund der sicheren therapeutischen Beziehung gelingt es vielen Patienten, sich im Rahmen einer Verhaltenstherapie auf neue Erfahrungen einzulassen und neue Verhaltensmuster zu erproben. In den Fokus wird jetzt der Alltagstransfer gelernter Strategien genommen. Patienten erarbeiten Techniken der Selbstregulation und Rückfallprophylaxe. Eine Loslösung aus der therapeutischen Beziehung schließt die Behandlung ab.
5.3.3.3. Verhaltensanalyse
Die Verhaltensanalyse dient gleichsam der präzisen Diagnostik eines dysfunktionalen Verhaltens wie auch der Identifikation von Punkten, an denen die Therapie ansetzen kann. Sie erfolgt in der Regel entlang des sogenannten SORKC-Schemas, das fünf Aspekte betrachtet [3]. Dabei besteht der erste Schritt einer Verhaltensanalyse darin, das Problemverhalten (R) möglichst genau zu beschreiben, und zwar sowohl hinsichtlich der von außen beobachtbaren Verhaltensweisen als auch auf der Ebene innerer Reaktionen (z.B. Emotionen/Kognitionen) und der physiologischen Begleiterscheinungen. Diese drei Ebenen charakterisieren gemeinsam das Verhalten und sollten daher gemeinsam analysiert und möglichst voneinander differenziert werden.
Danach werden die Faktoren analysiert, die mit dem Verhalten verknüpft sind und diesem vorangehen (Situation (S), Organismusvariablen (O)) und ihm nachfolgen (Konsequenzen (C) und die damit verbundenen Kontingenzen (K)).
S (Situation): In welcher Situation (äußere Situation oder innere, z.B. Gedanken an ein bevorstehendes Ereignis) tritt das Problem auf? Können auslösende Bedingungen (z.B. im Sinne konditionierter Stimuli oder diskriminativer Hinweisreize) identifiziert werden, die für die Problementstehung maßgeblich sind?
O (Organismus): Welche Charakteristika des Individuums (z.B. psychische oder körperliche Eigenschaften, Lerngeschichte) sind für das Problem bedeutsam?
R (Response): Welches Verhalten wird gezeigt (innerpsychisch/sichtbar/physiologisch)?
K (Kontingenz): Mit welcher Kontingenz folgt auf das Verhalten welche Konsequenz (C)?
C (Consequence): Welche kurzfristigen und langfristigen, appetitiven (angenehmen) und aversiven (unangenehmen) Konsequenzen hat das Verhalten?
In Kapitel 2.2.3. wurden grundlegende Lernmechanismen entlang von Prozessen erklärt, die bei einer Zahnbehandlungsangst bedeutsam werden könnten. Dieses Beispiel soll nun dazu dienen, die verschiedenen Aspekte der Verhaltensanalyse zu veranschaulichen (in der Praxis ist eine Verhaltensanalyse natürlich viel umfassender als hier dargestellt). Ein Patient begibt sich wegen Zahnbehandlungsangst in Therapie. Der Patient gibt als Ziel an, in Zukunft Zahnarzttermine wahrzunehmen, die er bislang immer abgesagt hat (Phase 2, s.o.). Als Problemverhalten wird demnach zunächst die Terminabsage (sichtbares Verhalten) identifiziert. Eine genauere Analyse des Verhaltens (R) ergibt aber auch, dass dem Patienten in diesem Moment all die unangenehmen Dinge durch den Kopf gehen, die ihm beim Zahnarzt begegnen könnten. Gleichzeitig glaubt er, dass diese so schlimm sind, dass er sie auf keinen Fall bewältigen kann, und er empfindet starke Angst (innerpsychisches Verhalten), die auch mit Schweißausbrüchen und Herzrasen einhergeht (physiologische Ebene).
Kurzfristig führt die Terminabsage immer (K) zu einer Reduktion der Angst (C: negative Verstärkung), gleichzeitig aber auch zu Scham (C: Bestrafung) und langfristig zu wachsender Sorge (C: Bestrafung) hinsichtlich der Konsequenzen für seine Mundgesundheit. Danach befragt, was denn der Terminabsage vorausginge, gibt der Patient an, sich immer dann, wenn er den Termin im Terminkalender sähe, intensiv gedanklich damit auseinanderzusetzen (S). Ihm falle dann auch ein, wie schlecht er sich als Kind beim Zahnarzt gefühlt habe, wenn dieser ihn für seine schlechte Mundhygiene kritisiert habe. Das hätte er auch immer als sehr ungerecht empfunden, weil er sich viel Mühe gegeben habe und ihm eine gute Mundhygiene wichtig sei (O). Wenn ihm das dann durch den Kopf ginge (S), sei die Angst irgendwann so groß, dass er den Termin absage (R).
Für eine verhaltenstherapeutische Intervention ermöglicht die Aufstellung dieser Verhaltensgleichung eine klare Auswahl möglicher Behandlungsstrategien. Zunächst werden Therapeut und Patient die Wirkmechanismen der Angstreaktion erarbeiten und verstehen – allein dieser Aspekt hilft vielen Patienten, einen neuen Fokus auf die Problematik zu legen und sich deren Veränderbarkeit bewusst zu werden. In der Folge kann der Therapeut auch auf physiologische Bedingungen von Angststörungen eingehen und anhand des erarbeiteten Modells z.B. die Befürchtung des Patienten korrigieren, dass die erlebte Angst ausschließlich durch die Vermeidung der auslösenden Bedingung zu kontrollieren sei. Viele Patienten entziehen sich durch ihr Vermeidungsverhalten der Erkenntnis, dass auch ohne Flucht aus der auslösenden Situation die empfundene Angst nachlässt – die involvierten Neurotransmitter (u.a. Adrenalin, Noradrenalin) stehen nicht unbegrenzt zur Verfügung. In der Regel klingen massive Angstreaktionen nach 15–20 Minuten auch ohne Flucht ab, der Organismus habituiert. Versteht ein Patient diesen Teil der Verhaltensanalyse und macht man ihn anschließend mit dem Konzept der Löschung von gelernten Verknüpfungen vertraut, ist die konkrete Planung derartiger Interventionen schon sehr gut gebahnt. Gerade auf Löschung und Habituation fokussierende Techniken stellen klassische verhaltenstherapeutische Interventionen dar, um die wir uns im nächsten Abschnitt kümmern werden.
5.3.3.4. Klassische Verhaltenstherapeutische Interventionen
Exposition
Frühe verhaltenstherapeutische Ansätze suchten nach Möglichkeiten, Verhalten unter Zuhilfenahme klassischer und operanter Konditionierungsprozesse zu modifizieren.
John B. Watson führte im Jahr 1920 Experimente durch, die nach damaligen wie auch heutigen Maßstäben ethisch nicht vertretbar sind. Einem elf Monate alten Kind – „Little Albert“ – konditionierte er eine Angstreaktion an, indem er immer dann mit einem Hammer auf eine Eisenstange schlug, wenn sich Albert einer weißen Ratte zuwandte, die er zuvor mit großem Interesse betrachtet hatte. Schon bald zeigte das Kind allein beim Anblick der Ratte eine ausgeprägte Angstreaktion, die sich in späteren ‚Lerndurchgängen‘ auf ähnliche Reize (z.B. ein Kaninchen, einen Pelzmantel etc.) generalisierte.
Als Reaktion auf diese Studien entwickelten Nachfolger Watsons die Methode der Gegenkonditionierung. Bei einem dreijährigen Jungen – „Little Peter“ – wurde die Angst des Kindes vor einem Kaninchen so behandelt, dass immer dann, wenn das Kaninchen in Peters Sichtfeld kam, der Junge mit Keksen und Milch versorgt wurde. Der zuvor mit Angst assoziierte Stimulus wurde hier zu einem Signal für eine positiv konnotierte Reizkonfiguration. Im Laufe der Konfrontation mit dem Kaninchen konnte der Abstand zwischen Peter und dem Tier verringert werden, bis er zuletzt das Kaninchen berühren und streicheln konnte. An Stelle der zuvor konditionierten Angstreaktion löste der phobische Reiz nun eine Entspannung aus.
Dieser und andere verhaltenstherapeutische Ansätze, in denen sich der Patient individuell angstbesetzten Reizen aussetzen muss, werden als Expositionstechniken zusammengefasst. All diesen Techniken ist gemein, dass eine Vermeidung der Angstreize und in deren Folge eine negative Verstärkung des phobischen Verhaltens verhindert werden sollen. Hier werden die lerntheoretischen Mechanismen der Habituation, der Löschung und der Gegenkonditionierung genutzt.
Techniken der Exposition lassen sich in sensu (in der Vorstellung) und in vivo (im realen Leben) einsetzen. In sensu wird zumeist mit Patienten gearbeitet, die sich eine Konfrontation mit den Angstreizen im reellen Lebensumfeld noch nicht gut vorstellen können oder wenn die aufzusuchenden Situationen nicht beliebig verfügbar sind. So kommt zum Beispiel zur Behandlung von Zahnbehandlungsangst meist eine Kombination von In-sensu- und In-vivo-Techniken zum Einsatz.
Eine wichtige und breit evaluierte In-sensu-Intervention stellt die systematische Desensibilisierung dar. Nach Erstellung einer Verhaltensanalyse über mehrere Situationen, in denen ein Patient Angst empfindet, werden diese angstauslösenden, konditionierten und generalisierten Reize in eine Hierarchie von Auslösern leichter Ängste bis hin zu maximal angstbesetzten Situationen gebracht und der Patient wendet gleichzeitig Entspannungstechniken an.
Unser oben beschriebener Patient wird sich vielleicht bei der Vereinbarung eines Behandlungstermins nur leicht unwohl fühlen. Bereits die konkrete Vorstellung, zum Zahnarzt zu gehen wird ein höheres Ausmaß an Angst hervorrufen. Sich beim Zahnarzt in den Behandlungsstuhl zu setzen, wird wiederum mit stärkerer Angst besetzt sein. Schließlich wird die zahnärztliche Untersuchung möglicherweise die stärksten Reaktionen provozieren.
Bereits parallel zur Erstellung der Verhaltensanalyse erlernt unser Patient ein Entspannungsverfahren. Dabei wird häufig die von Edmund Jacobson in den 1920er und 1930er Jahren erstmals beschriebene Progressive Muskelrelaxation (PMR) genutzt. Jacobson hatte festgestellt, dass verschiedenste somatische und psychische Erkrankungen mit einem überhöhten Muskeltonus einhergehen. Eine Reduktion der muskulären Anspannung hingegen geht auch mit einer psychischen Entspannung einher. Muskuläre Entspannung führt zu einem verschiedenen Erregungszuständen entgegengesetzten Zustand. Damit qualifizierte sich seine Technik als probates Mittel, durch Angst induzierte Anspannung zu reduzieren. Da sich Entspannung und Angstreaktion physiologisch ausschließen, wird der Einsatz der PMR bei Angstbehandlungen auch mit dem Begriff der reziproken Hemmung beschrieben [4].
Patienten lernen in einem PMR-Training, nacheinander einzelne Muskelgruppen des Körpers (Hände, Arme, Beine, Schultern und Nacken, Rücken, Rumpf, Gesicht) anzuspannen, die Anspannung kurz zu halten und dann bewusst zu lösen. Dabei wird die Aufmerksamkeit auf die Empfindung des Wechsels zwischen An- und Entspannung gelenkt. Mit zunehmender Übungsdauer kann eine willentliche und bewusste Entspannung der Muskulatur und damit ein Zustand tiefer Entspannung des ganzen Körpers erreicht werden. Mit dieser Fähigkeit und einer eintretenden verbesserten Körperwahrnehmung steht dem Patienten nun ein Handwerkszeug zur Verfügung, das ihm erlaubt, Zeichen körperlicher Unruhe oder Erregung zu reduzieren, wann immer dies notwendig wird.
Im Rahmen der systematischen Desensibilisierung wird nun eine gedankliche (in sensu) Auseinandersetzung mit dem am wenigsten angstauslösenden Reiz der Hierarchie unternommen. So soll sich der Patient z.B. vorstellen, einen Termin zu vereinbaren, und die Situation gedanklich und emotional möglichst differenziert wahrzunehmen.
Unter kontinuierlicher Beobachtung des Anspannungsniveaus wird der Patient dazu angehalten, die erlernte Technik der PMR bis zur völligen Entspannung und einem deutlichen Rückgang der Angstreaktion anzuwenden. Dieser Schritt wird wiederholt, bis das gedankliche Vereinbaren des Termins zuverlässig an eine Entspannungssituation gekoppelt und von der leichten Angstreaktion gelöst ist. In der Folge werden in gleicher Weise Übungen zur Bewältigung der nächsthöheren Stufe der Angsthierarchie unternommen, bis der Patient auch die stärkste Situation in der Vorstellung ohne Angst bewältigen kann.
Die Exposition mit Angstreizen im realen Leben (in vivo) wird Reizkonfrontation genannt. Nach ausreichender Aufklärung über die Wirkmechanismen des Verfahrens und bei expliziter Bereitschaft des Patienten können bei einem der systematischen Desensibilisierung ähnlichen schrittweisen Vorgehen (graduierte Reizkonfrontation) zunehmend stärkere Angstreize aufgesucht werden. Hier lernt der Patient, dass die als bedrohlich wahrgenommene Situation nicht zu der von ihm befürchteten Katastrophe führt, sondern dass die Angstreaktion allmählich abnimmt. Dabei kommt dem Therapeuten auch die Funktion zu, den Patienten während der Exposition im therapeutischen Setting daran zu hindern, sich der Angstsituation körperlich oder in Gedanken zu entziehen und somit das bislang geläufige Vermeidungsverhalten auszuüben (Reaktionsverhinderung). Der Patient wird dazu angehalten, die auftretenden Wahrnehmungen und Gefühle differenziert zu beschreiben, sich ihnen zuzuwenden und sie nicht zu vermeiden. Er lernt, dass die bislang von ihm vermiedene Situation bewältigbar ist und sich die Angstreaktion schon allein aus physiologischen Gründen (s.o.) abschwächt. Der Patient übt dies auch außerhalb der Therapiesitzungen zuhause. Unter diesem Vorgehen erfolgt eine Löschung (Extinktion) der konditionierten Angstreaktion.
Viele Patienten und Therapeuten bevorzugen eine Kombination aus systematischer Desensibilisierung und graduierter Reizkonfrontation zur Behandlung von Ängsten. Aber auch eine sofortige Zuwendung zum schwersten Angstreiz, eine sogenannte massierte Reizkonfrontation, kann einen raschen Behandlungserfolg erzielen. Unter dieser auch als Flooding bezeichneten Technik sucht der Patient (nach Verhaltensanalyse, kognitiver Vorbereitung und Psychoedukation über die Wirkmechanismen) im Rahmen der Exposition sofort den maximal angstauslösenden Reiz auf und verbleibt in dieser Situation bis zum substantiellen Nachlassen der Angst, ohne gedanklich oder durch Verlassen der Situation einer negativen Verstärkung Vorschub zu leisten. Dieser Prozess wird zunächst oft als starke Belastung empfunden, nach einigen Wiederholungen tritt die beabsichtigte physiologische Erschöpfung aber immer rascher ein. Zudem lernt der Patient, dass er stärkste Angstreize bewältigen kann und überträgt diese Erfahrung auch auf Situationen, die geringere Befürchtungen auslösen.
Erfolgt die massierte Reizkonfrontation nicht in vivo, sondern z.B. zur Vorbereitung zunächst in sensu, sprechen wir von einer Implosionstechnik. Hier wird der Patient dazu angehalten, sich als aversiv erlebte Reize detailliert vorzustellen, so wie sie in realen angstauslösenden Situationen auftreten würden. Es wird angenommen, dass die Vorstellungen angstbesetzter Reize ihrerseits konditionierte Stimuli darstellen, deren Verknüpfungen gelöscht werden können. Gelingt eine Löschung, wird in der Folge auch das Vermeidungsverhalten der Patienten bei Konfrontation mit angstauslösenden Reizen in vivo reduziert.
Expositionen, also Personen Reizen auszusetzen, die bestimmte unerwünschte Reaktionen provozieren, dienen nicht nur als Intervention bei angstbesetzten Stimuli. Sie können auch bei appetitiven Reizen (z.B. bei Suchterkrankungen) eingesetzt werden, um gelernte Reaktionsmuster bei Konfrontation mit einem Reiz abzuschwächen. So können Patienten mit Alkoholabhängigkeit lernen, dass in Situationen, die den Konsum wahrscheinlich machen (z.B. ein angebotener Drink), das Verlangen (Craving) auch ohne Konsum mit der Zeit abnimmt.
Operante Verfahren
Auch Verfahren mit Fokus auf die Verstärkung von Verhalten spielen in der Verhaltenstherapie eine wichtige Rolle. So werden erreichte Therapieziele z.B. im Rahmen von Expositionen durch den Therapeuten gelobt, die Wahrnehmung des Patienten wird auf positive Folgen der Verhaltensänderung gerichtet. Zudem suchen Patient und Therapeut gemeinsam nach Verstärkern, mit denen sich der Patient bei erfolgreicher Bewältigung problematischer Situationen belohnen kann. Bei Depressionsbehandlungen dient das gezielte Aufsuchen von Situationen mit positivem Verstärkerwert dazu, den Symptomen des sozialen Rückzugs und einer Aktivitätsminderung entgegenzuwirken.
Werden Verstärker ganz bewusst zur Verhaltenssteuerung eingesetzt, geschieht dies oft in sogenannten Token-Systemen. Hier erhält die Person für erwünschtes Verhalten einen ‚Token‘ – das könnte ein Stempel in einem Heft, eine Wertmarke, ein Aufkleber etc. sein. Eine bestimmte Anzahl dieser Tokens kann dann z.B. in ein Spielzeug, einen Kinobesuch oder einen anderen sekundären Verstärker eingetauscht werden. Vielleicht erinnern Sie sich an die ‚Bienchen-Stempel‘ Ihrer frühen Schulzeit, an die Aufkleber für gutes Zähneputzen. Wenn das Fall ist, dann sind auch Sie schon in den Genuss dieser verhaltenstherapeutischen Intervention gekommen. Token-Systeme haben allerdings den Nachteil, dass ein Transfer des erwünschten Verhaltens in Lebensbereiche außerhalb des Systems nicht zuverlässig zu erwarten ist. Haben Sie von Ihren Eltern auf Anraten Ihres Zahnarztes kleine Aufkleber für richtiges Zähneputzen bekommen, haben Sie zuhause wahrscheinlich gründlich Ihre Zähne gereinigt. Während der Ferien bei Oma, die keine derartigen Aufkleber hatte, ließ Ihre Gründlichkeit vielleicht nach, insbesondere, wenn hier andere Verhaltensweisen vorrangig verstärkt wurden.
Umgekehrt kann es aber auch vorkommen, dass ein Patient mit chronischen Rückenschmerzen immer dann von seiner Frau unterstützt und von lästigen Haushaltspflichten entbunden wird, wenn er besonders deutlich über Schmerzen klagt. Im ungünstigsten Fall wendet sie sich ihrem Mann ansonsten wenig zu. Hier kann es sinnvoll sein, die Gattin in die Therapie einzubeziehen und zu vermitteln, dass sie mit dieser Rücksichtnahme die Schmerzerkrankung verstärkt und zu ihrer Aufrechterhaltung beiträgt. Im Zuge einer Verstärkermodifikation sollte sich das Paar mit Verstärkermechanismen verständigen, die nicht am Auftreten der Schmerzen orientiert – also nicht ereigniskontingent – sind, sondern regelmäßig und ohne Bezug auf die Schmerzen – also zeitkontingent – auftreten. Ein Kuss und ein nettes Wort nicht nur im Zuge einer Krankenversorgung, eine an den Fähigkeiten beider orientierte Aufteilung der Hausarbeiten und eine wechselseitige Wertschätzung können hier Schmerzverhalten reduzieren.
Im Rahmen kognitiver Verhaltenstherapie werden zudem Therapieverträge eingesetzt. In einer Dialektisch Behavioralen Therapie [5] bei emotional instabiler Persönlichkeitsstörung vereinbaren Therapeut und Patient die Einhaltung verschiedener Vorgaben durch den Patienten (z.B. Reduktion selbstschädigenden Verhaltens, regelmäßiges Erscheinen zur Therapie). Die psychotherapeutische Behandlung wird bei entsprechendem Verhalten durchgeführt, Verletzungen der Vereinbarung resultieren im Pausieren des Kontaktes oder Abbruch der Therapie.
5.3.3.5. Spezifika der kognitiven Verhaltenstherapie
Wie oben dargelegt, fokussiert die Verhaltensanalyse nicht nur das sichtbare Verhalten einer Person. Auch Gedanken, Bewertungen und Überzeugungen einer Person können, wie bereits deutlich wurde, Teil des Problems sein. Denkprozesse beeinflussen unsere Wahrnehmung und die Verarbeitung der Informationen aus der Umwelt sowie die Art und Weise, wie wir Erfahrungen abspeichern. Ein Kind mit der erworbenen Überzeugung, stets zu den Besten der Klasse gehören zu müssen, wird häufiger auch beiläufige Situationen im Sinne einer Prüfung interpretieren. Ein Dachdecker, der vom Gerüst gefallen und nun überzeugt ist, dass der Aufenthalt in großer Höhe gefährlich sei, wird beim Besuch eines Aussichtsturmes seine Wahrnehmung rascher auf die Höhe des Gebäudes richten als auf die grandiose Fernsicht. Patienten mit Depressionen nehmen an, dass sie im Vergleich zu anderen minderwertig seien. Werden sie nun z.B. vom Personal eines Supermarktes unfreundlich behandelt, werden sie diese Erfahrung als Bestätigung ihrer Einstellung zu sich selbst bewerten. Die Möglichkeit, dass das Verkaufspersonal vielleicht gerade ein unangenehmes Erlebnis mit einem anderen Kunden hatte, werden sie nicht in Erwägung ziehen.
In der kognitiven Verhaltenstherapie wird davon ausgegangen, dass menschliches Fühlen und Handeln sowie auch körperliche Reaktionen durch die Art zu denken bestimmt werden. Die Therapie versucht, derartige irrationale und dysfunktionale Kognitionen zu verändern, da in vielen Fällen nicht die objektiven Gegebenheiten, sondern die subjektiven Bewertungen eines Individuums sein Handeln bestimmen. Wichtige Vertreter dieser Denkschule sind Albert Ellis [6] und Aaron T. Beck [7].
Greifen wir an dieser Stelle auf die Verhaltensanalyse zurück und auf das zugehörige SORKC-Modell, erkennen wir, dass die kognitive Verhaltenstherapie einen fundamentalen Schritt weiter geht als die klassische Verhaltenstherapie, wenn sie das dortige S → R → C-Modell um die „O“-Variable ergänzt, die die grundlegenden Überzeugungen einer Person, ihre Erfahrungen und Denkmuster beinhaltet.
Unter der Annahme, dass sich bei Veränderung dysfunktionaler Annahmen auch das Erleben, Fühlen und Verhalten des Patienten verändert, strebt die kognitive Verhaltenstherapie danach, dysfunktionale Kognitionen bewusst zu machen, zu überprüfen, zu korrigieren und die korrigierten Einstellungen ins konkrete Verhalten zu übertragen.
Eine wichtige Technik stellt hier der sokratische Dialog dar. Der Therapeut entwickelt eine Hypothese über die Art der Verzerrung des Denkens des Patienten. Behutsam steuert er durch Hinterfragen der Annahmen des Patienten diesen zu alternativen Sichtweisen. Resultiert z.B. die Angst eines Studierenden vor einer Prüfung aus Annahmen über z.B., dass eine misslungene Prüfung die Möglichkeit in sich trägt, den Lernstoff für eine Nachklausur vertiefter zu verinnerlichen, ein Studienabbruch kann zu neuen, reiferen und selbstbestimmten Entscheidungen über die eigene berufliche Zukunft führen.
Ein depressiver Patient führt durch den Therapeuten angeleitet Gedankenprotokolle und erkennt, dass er häufig annimmt, von Menschen in seiner Umgebung abgelehnt zu werden. Im sokratischen Dialog kann nun die Angemessenheit dieser Annahme infrage gestellt, alternative Erklärungen z.B. für einen reduzierten Kontakt zu seinen Arbeitskollegen können entwickelt werden. Auf diesem Wege entsteht z.B. die neue Hypothese, dass der geringe Austausch mit den Kollegen darauf zurückzuführen ist, dass sich der Patient aufgrund seiner negativen Selbstbewertung selbst von diesen zurückzieht. Diese Hypothese gilt es anschließend zu prüfen. Vielleicht erkennt der Patient, dass er durch Ansprechen der Kollegen Verabredungen nach der Arbeit initiieren kann, sodass sich diese positive Erfahrung wiederum verstärkend auf seine neue Sichtweise auswirkt.
Ein an der akuten Belastungssituation orientiertes Verfahren stellt das Stressimpfungstraining nach Meichenbaum [8] dar. In unterschiedlichen Stresssituationen sollen verhaltenssteuernde Selbstverbalisationen eingesetzt werden, z.B.: „Sorge Dich jetzt nicht um die Prüfung, sondern überlege, wie Du Dich dem Lernstoff nähern kannst“, oder: „Du kannst Deine Angst in Grenzen halten! Entspanne Dich während Du die Aussicht von diesem Turm aus genießt!“, oder: „Du kennst diese Angst schon, sie wird gleich nachlassen!“, oder: „Die Situation ist unangenehm, aber nicht gefährlich!“ Derartige Selbstverbalisationen können Alternativen zu den dysfunktionalen Kognitionen darstellen und diese sukzessive ersetzen.
5.3.3.6. Neue Entwicklungen
Nachdem sich die Verhaltenstherapie ausgehend von klassisch behavioralen Ansätzen auch den grundlegenden kognitiven Prozessen zugewandt hat, erleben wir in den letzten Jahren eine neue Erweiterung des Behandlungsspektrums hin zu wiederkehrenden Beziehungsmustern und Strategien eines angemessenen Umgangs mit Gefühlen.
Schematherapeutische Verfahren [9] gehen davon aus, dass in frühen Beziehungen Schemata erworben werden, die umfassende Muster emotionaler, kognitiver, physiologischer und verhaltensmäßiger Reaktionen umfassen und das Verhalten steuern. In der Therapie werden frühe Erfahrungen in der Biographie der Patienten identifiziert, die damals z.B. zu großer Angst, Scham, Trauer oder Wut führten und sich in ähnlichen Reaktionsmustern in vergleichbaren Situationen im aktuellen Leben widerspiegeln.
Nachdem maladaptive Schemata bzw. Verhaltensmodi erkannt wurden, erarbeiten Therapeut und Patient Möglichkeiten, diese Reaktionsmuster aus einer ‚inneren Distanz heraus‘ zu beobachten und neue, adaptivere Handlungsmuster zu entwerfen.
Eine weitere neuere Form der Psychotherapie stellt die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT, [10]) dar. Diese integriert klassisch verhaltenstherapeutische Techniken sowie achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Strategien. Patienten lernen hier, Situationen und daraus folgende Empfindungen nicht automatisch zu bewerten. Versuche der Kontrolle von Empfindungen sollen abgebaut und eine erhöhte Bereitschaft entwickelt werden, auch unangenehme Erfahrungen zu erleben, ohne ihnen eine lebensbestimmende Funktion zuzuschreiben. Gedanken sollen achtsam betrachtet werden, ohne zwangsläufig das Verhalten an ihnen auszurichten.
Patienten lernen dabei ebenso, erlebte Emotionen bewusster wahr- und anzunehmen („Ich habe ein Gefühl, ich bin aber nicht das Gefühl!“). Ein wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang ist die Achtsamkeit, die Patienten zu einer bewussten und nicht wertenden Wahrnehmung eigener aktueller Gefühle anregt. Achtsamkeitstrainings [11] unterstützen diese Distanzierung von aktuell als belastend wahrgenommenen Gefühlen oder Gedanken, indem sie dazu anleiten, den jeweils aktuellen Zustand wach und ohne Bewertung wahrzunehmen. Achtsamkeitsbasierte Interventionen werden in einem breiten Spektrum psychotherapeutischer Indikationen eingesetzt und dienen als wirksames Mittel der Emotionsregulation.
5.3.3.7. Zusammenfassung
Verhaltenstherapie hat innerhalb des letzten Jahrhunderts zahlreiche Entwicklungen erfahren. Während zunächst ‚klassische‘ Verfahren der Verhaltensänderung durch Expositionstechniken und Verstärkermodifikation entwickelt wurden, adressieren Ansätze der kognitiven Verhaltenstherapie Gedanken, Bewertungen und Überzeugungen, die im therapeutischen Prozess beeinflusst werden. In aktuellen Entwicklungen wird dem Erleben von Gefühlen und deren Einfluss auf das Denken und Verhalten Rechnung getragen. Darüber hinaus werden frühe Beziehungserfahrungen und deren Auswirkungen auf emotionale, kognitive, physiologische und verhaltensmäßige Reaktionen fokussiert.
References
[1] Kanfer FH, Reinecker H, Schmelzer D. Selbstmanagement-Therapie. 2nd ed. Berlin: Springer; 1996.[2] Rogers CR, Pfeiffer WM, Lewis MK, editors. Therapeut und Klient: Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. 20th ed. Frankfurt am Main: Fischer; 2010.
[3] Kanfer FH, Saslow G. Verhaltenstheoretische Diagnostik. In: Schulte D, editor. Diagnostik der Verhaltenstherapie. 2nd ed. München: Urban & Schwarzenberg; 1976. p. 24-59.
[4] Hofmann, E. Progressive Muskelentspannung: Ein Trainingsprogramm. Göttingen: Hogrefe; 2020.
[5] Linehan M. Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung. München: CIP-Medien; 1996.
[6] Ellis A. Praxis der rational-emotiven Therapie. München: Urban & Schwarzenberg; 1979.
[7] Beck AT. Cognitive Therapy and the emotional disorders. New York: International University Press; 1976.
[8] Meichenbaum D. Intervention bei Stress: Anwendung und Wirkung des Stressimpfungstrainings. 3rd ed. Göttingen: Hogrefe; 2012.
[9] Young JE, Klosko SJ, Weishaar ME. Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Weinheim: Beltz; 2008.
[10] Hayes SC, Strohsal KD, Wilson KG. Akzeptanz und Commitment Therapie. Ein erlebnisorientierter Ansatz zur Verhaltensänderung. Sonntag R. Übersetzer. München: CIP-Medien; 2004.
[11] Michalak J, Heidenreich T, Williams JMG. Achtsamkeit. Göttingen: Hogrefe; 2012.