Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.3.3. Die Gesamtheit des individuellen Lebenslaufs: Biographie und Identität

 Jutta Margraf-Stiksrud 1


1 Fachbereich Psychologie, Philipps-Universität Marburg, Marburg, Germany

Lebensgeschichten als Ausgangspunkt psychologischer Analysen liefern eine Fülle von Informationen, die auch im medizinischen Setting von großer Bedeutung sein können. Wenn Menschen wiederkehrende Abläufe in ihrem Leben wahrnehmen, können Skripte zu wichtigen Themen entstehen: „Probleme lassen sich lösen“ oder „In meinem Leben geht immer etwas schief“. Neben solchen Skripten, hinsichtlich denen sich Menschen tatsächlich unterscheiden, werden bei der Strukturierung lebensgeschichtlicher Information auch bestimmte Inhalte besonders beachtet, die sich in Gesprächen mit Menschen als besonders relevant herausgestellt haben: Wendepunkte im eigenen Leben, besonders wichtige andere Personen und die Beziehung zu ihnen, Ziele, die im Leben verfolgt werden und ob sie erreicht werden, und unterschiedliche Rollen, in denen sich der Befragte sieht. Die meisten Personen geben zu diesen Themen sehr individuelle Antworten und Beschreibungen. In der Regel werden diese Antworten als Mittel wahrgenommen, um „Sinn“ in die Geschehnisse im eigenen Leben zu bringen. Die individuellen Deutungen von Lebensereignissen tragen zur Bildung der eigenen Identität bei, sie werden als Teil der eigenen Person betrachtet.

In der Vergangenheit wurde eine Reihe von Strukturierungssystemen für Lebensgeschichten entwickelt (eine Übersicht gibt [1]). Hieraus ergeben sich Typen von Lebensgeschichten, die mit den Eigenschaften und Verhaltensstilen korrelieren, die mit anderen Methoden gewonnen wurden (etwa mit Fragebogen, s. Abschnitt 2.3.1.2.). So erzielen Menschen mit Lebensgeschichten vom Typ „Überwindung von Schwierigkeiten“ (eng. redemption) höhere Werte in Lebenszufriedenheit und Selbstwertgefühl als Menschen mit Lebensgeschichten vom Typ „Mein Leben hat sich negativ entwickelt“ (eng. contamination), während diese höhere Werte in Depression zeigen.

Biographische Ansätze, die individualisierte und umfassende Informationen über Menschen berücksichtigen, führen trotz aller methodischer Probleme offenbar zu brauchbaren Aussagen über interindividuelle Unterschiede. Künftige Forschung wird zeigen, ob deren Leistungsfähigkeit zur Gewinnung von wichtigen Erkenntnissen über einzelne Personen auch für den klinischen Kontext nutzbar sein wird. Exploration und Anamnese sind dort unverzichtbare Methoden, die bei Berücksichtigung biographischer Ansätze möglicherweise noch weitaus ertragreicher als bisher im Hinblick auf Informationen über die unterschiedlichen Bedürfnisse, Kompetenzen und Erwartungen von Patienten sein könnten.


References

[1] McAdams D. The Person: An Introduction to the Science of Personality Psychology. 5th ed. Hoboken: Wiley; 2009.