Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.5.4.2. Entwicklung und Gestaltung sozialer Beziehungen

 Thomas von Lengerke 1


1 Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany

Nicht nur die Ausprägung, sondern auch die Entwicklungsgeschichte derjenigen psychischen Variablen, die im Erwachsenenalter Stressbewältigung und gesundheitsrelevantes Verhalten mitbestimmen (vgl. Kapitel 2.5.3.), gestaltet sich von frühester Kindheit an nicht im „luftleeren Raum“, sondern in der Interaktion mit sozialer und gesellschaftlicher Umwelt (s. Kapitel 2.5.1.).

Ausgangspunkt einer psychologischen Betrachtung der sozialen Beziehungen, die sich im Laufe des Lebens entwickeln, sind Dyaden [1].1 Menschen treten in solchen Zweiergruppen dann in soziale Interaktion miteinander, wenn das Verhalten der Beteiligten voneinander abhängig ist. Das bedeutet, dass das Verhalten eine Reaktion auf vorangegangenes Verhalten des anderen darstellt.

Eine soziale Beziehung ist kognitiv nicht nur als Bild der eigenen Person in dieser Beziehung (Selbstbild) und Bild der Bezugsperson repräsentiert, sondern auch als Interaktionsskripte. In solchen Skripten ist für unterschiedliche Interaktionssituationen die eigene Erwartung spezifischer Interaktionsmuster enkodiert (Verhaltensketten aus Verhalten, Reaktion, Reaktion auf die Reaktion, usw.). Solche Repräsentationen sozialer Beziehungen werden Beziehungsschemata genannt. Diese werden auch durch normative Vorstellungen zur Beziehungsgestaltung und beziehungsbezogenen Erwartungen, z.B. zu ihrer Dauerhaftigkeit, beeinflusst. Beziehungsschemata enthalten auch affektive Komponenten, die dazu beitragen, dass sich Einstellungen zu sich selbst und dem Anderen und der Beziehung selbst entwickeln.

Es lassen sich Rollenbeziehungen (Beziehungen, die durch soziale Rollen bestimmt sind; s. Kapitel 2.5.2.) und persönliche Beziehungen unterscheiden. „Persönlich“ ist eine Beziehung dann, wenn die Interaktion nicht (nur) durch soziale Rollen erklärt werden kann. Sie werden vor allem durch die Persönlichkeiten der Beteiligten bestimmt. Soziale Beziehungen basieren in der Regel auf Kombinationen aus Rollenerwartungen und beziehungsspezifischen Faktoren. So werden einmalige Interaktionen zwischen Arzt und Patient in Notfallsituationen stark von ihren Rollen bestimmt sein, da die Zeit zur Entwicklung spezifischer Interaktionsmuster nicht ausreicht, und die Rollenerwartungen zur Strukturierung der sozialen Situation beitragen. Die jahrelange Beziehung eines Patienten zum Hausarzt kann demgegenüber zu einer zwar primär professionellen, jedoch auch persönlichen Beziehung werden, in der die Beziehungsschemata übereinstimmen und dadurch die Bewältigung gemeinsamer Aufgaben unterstützt wird. Schließlich sind Beziehungen zwar dyadisch definiert, können jedoch durch Wechselwirkungen mehrerer Beziehungen (z.B. triadische Effekte) bzw. Gruppenstrukturen und -eigenschaften beeinflusst werden.

Auf gesundheitliche Endpunkte wirken soziale Beziehungen vor allem vermittels ihrer Qualitäten. So wird z.B. die Compliance, also Therapietreue von Patienten im Rahmen medizinischer Behandlungen, stärker von sozialer (vor allem von praktisch-instrumenteller) Unterstützung beeinflusst als von strukturellen Merkmalen wie etwa dem Familienstand. Eine weitere wichtige Qualität sozialer Beziehungen neben der Unterstützung (s. Kapitel 2.6.7.), Enge (Häufigkeit, Vielfalt, Stärke und Dauer der Interaktion), Intimität (Grad der wechselseitigen Selbstenthüllung, also Mitteilung privater Gedanken und Gefühle) und ggf. Sexualität (s. Kapitel 2.8.4.) ist die Bindung. Diese Qualität ist neben Verlässlichkeit, Selbstwertstärkung, sozialer Integration, Beratung und eigener Unterstützung eine grundlegende Funktion verschiedener Bezugspersonen und bezieht sich auf die Dimension psychischer Nähe vs. Distanz. Es können vier Bindungsstile unterschieden werden: sicher (keine Vermeidung des Kontakts und der Nähe zur Bindungsperson), vermeidend (Ignorieren oder aktives Vermeiden der Bindungsperson), ängstlich-ambivalent (aktive Zuwendung zur und aggressives Verhalten gegenüber der Bindungsperson) und desorganisiert-desorientiert (Zusammenbruch normaler Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien).

Bindung beschreibt, ob und wie(weit) Bezugspersonen aufgesucht werden, um Sicherheit zu erlangen. Bezüglich des kindlichen Bindungsstils geht die Bindungstheorie davon aus, dass Interaktionserfahrungen (beginnend mit der primären Bezugsperson) kognitiv in einem inneren Arbeitsmodell bzw. basalen Beziehungsschema repräsentiert werden [2], [3].

 Welcher Bindungsstil im Einzelfall vorliegt, wird durch die Interaktion zwischen der primären Bindungsperson (vor allem ihrer Feinfühligkeit i.S. der Wahrnehmung des kindlichen Verhaltens, seiner richtigen Interpretation und angemessener Reaktionen auf die kindlichen Bedürfnisse) und dem Kind (vor allem seiner Distress-Neigung, also Tendenz zu negativer Affektivität) bestimmt. Die Bindungsstile Erwachsener entsprechen den o.g. Stilen: sicher-autonomer, unsicher-distanzierter, unsicher-verwickelter und unverarbeitet-traumatisierter Bindungsstil. Sicher gebundene Menschen zeichnen sich durch eine Kombination von positivem Selbstbild und positivem Bild von Bezugspersonen aus.

Inwieweit der Bindungsstil einer Person im Lebensverlauf stabil bleibt, ist umstritten. Geringe Stabilität wird mit dem Revisionsmodell der Bindungsentwicklung erklärt: Bindungsstile unterliegen einer „[…] Entwicklungssequenz, in der in unterschiedlichem Alter unterschiedliche Bindungen bestehen2, wobei jeweils bei den Übergängen die vorhandenen Bindungsrepräsentationen den jeweiligen Bindungserfahrungen angepasst werden“ ([1], S. 240). Das Modell der Bindungsaktivierung geht davon aus, dass sicher gebundene Menschen bei Gefahr reale Bezugspersonen oder deren innere Repräsentationen erfolgreich erreichen und die Situation konstruktiv bewältigen. Demgegenüber setzen unsicher Gebundene hyperaktivierende Strategien ein, versuchen also, prinzipiell erreichbare Bezugspersonen in ängstlich-ambivalenter Weise auf die Gefahr aufmerksam zu machen, oder deaktivierende Strategien, die eingesetzt werden, wenn Nähe nicht möglich erscheint. Diese Strategien umfassen Bewältigungsmodi, die das Bindungsbedürfnis verleugnen und eher auf individuelle (vs. gemeinschaftliche) Bewältigung setzen.

Für die Medizin sind die hier skizzierten bindungstheoretischen Grundlagen nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil Bindungssicherheit eine Entwicklungsressource darstellt, die den Aufbau von interpersonellem Vertrauen begünstigt [4]. So ist auch im Gesundheitssystem, in dem (medizinische) Versorgung von Menschen für Menschen organisiert wird und unterschiedliche soziale Interaktionen zwischen Patienten, Ärzten, Pflegenden, Apothekern, Versicherungen, Zulieferern, Regulatoren und anderen Akteuren eine zentrale Rolle spielen, zwischenmenschliches Vertrauen höchstrelevant.

Psychologisch verweist (interpersonelles) Vertrauen auf die Zuversicht bzw. Erwartung, dass Andere sich positiv gegenüber einem selbst verhalten werden [1]. Es kann als soziale Einstellung begriffen werden, die aus dem Wissen über die bzw. Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit einer Person oder Institution (kognitive Komponente), einer emotionalen Bewertung (z.B. dem Gefühl von Sicherheit; affektive Komponente) und einer Verhaltenstendenz (z.B. bzgl. des Anvertrauens persönlicher Dinge; motivational-behaviorale Komponente) zusammengesetzt ist [5].

 

Für Arzt-Patient-Beziehungen bedeutet diese Definition im Kern, dass ein Patient einem Arzt dann vertraut, wenn er davon überzeugt ist, dass der Arzt im besten Interesse des Patienten handelt. Dabei können Erwartungen bzgl. der Kompetenz des Arztes und seiner Patientenwohl-Orientierung, Kontrolle über entscheidungsrelevante Ressourcen, Offenheit, Informationen zu erheben und zu vermitteln, und seinem Umgang mit vertraulichen Informationen unterschieden werden [6]. Menschen mit sicherem Bindungsstil berichten von stärkerem Vertrauen in Ärzte als Menschen mit einem unsicheren, vor allem unsicher-verwickeltem Bindungsstil.

Die Funktion des Vertrauens liegt aus medizin-psychologischer Sicht vor allem darin, dass es bei hoher Ausprägung eine Ressource für die kooperative Gestaltung der (Arbeits-)Beziehung von Arzt und Patient darstellt und solche Formen gemeinschaftlich-partnerschaftlicher Kooperation zu medizinisch günstigeren Ergebnissen beitragen. Entsprechendes gilt auch für andere Beziehungen zwischen den o.g. Akteuren im Gesundheitssystem und in multidisziplinären Teams. Diese Kooperation lässt sich nicht zuletzt durch die Vermittlung kommunikativer Fähigkeiten fördern [7]. Hierbei sind folgende Vertrauensmerkmale von Bedeutung:

  • Reziprozität bedeutet, dass der Vertrauende erwartet, dass ihm sein Interaktionspartner ebenfalls vertraut [5]. In symmetrischen persönlichen Beziehungen wie z.B. Partner- oder Freundschaften wird Reziprozität oft dadurch realisiert, dass äquivalente Vertrauenshandlungen ausgetauscht werden (z.B. gegenseitiges Anvertrauen persönlicher Dinge). Wichtig für Rollenbeziehungen im Gesundheitswesen wie der Arzt-Patient-Beziehung, die (auch) asymmetrische Aspekte aufweist (vgl. Kapitel 4.2.), ist, dass sich dieses Prinzip aus persönlichen Beziehungen nicht direkt übertragen lässt. Hier wird Reziprozität also durch den Austausch nicht-äquivalenter Leistungen definiert, wobei dies aus Sicht des Patienten dann erreicht wird, wenn die Arztleistungen seine Erwartungen erfüllen.
  • Das Merkmal Risiko beschreibt, dass Vertrauen grundsätzlich in der Gefahr steht, enttäuscht zu werden. Dementsprechend ist z.B. das Sprechen über private Dinge mit einem Fremden auf einer Reise nicht unbedingt ein Vertrauensbeweis, da die Wahrscheinlichkeit, sich erneut zu begegnen und interagieren zu müssen, und damit das Enttäuschungsrisiko, gering sind [5]. Besonders für längerfristige Arzt-Patient-Beziehungen bedeutet dies jedoch, dass die Schaffung von Vertrauen eminent wichtig ist, damit der Patient das Risiko, behandlungsrelevante persönliche Informationen zu teilen, auch eingeht (bei kurzfristigen Behandlungen strukturieren hier wie erwähnt in stärkerem Maße soziale Rollenerwartungen die Interaktion).
  • Schließlich braucht das Entstehen von Vertrauen Zeit, in der die Interaktionspartner ihre Vertrauenswürdigkeit gegenseitig „austesten“, Erfahrungen machen und damit wissensbasiertes Vertrauen entstehen kann [5]. Gerade für beginnende Arzt-Patient-Beziehungen bedeutet dies jedoch nicht nur, dass sie von Rollenerwartungen bestimmt werden, sondern auch, dass Respekt als eine soziale und subjektive Norm von großer Bedeutung ist. So entsteht in Situationen, in denen sich Interaktionspartner noch nicht kennen, Vertrauen dann, wenn die Norm, die Person des Anderen zu respektieren, aktiviert wird. Versteht man „Respekt“ als „den Anderen (be)achten“, verweist dies auf die Bedeutung der Orientierung des Arztes auf den Patienten. Dem entspricht die Rolle von „Respekt“ als Kernkonzept im „UK Consensus Statement on the Content of Communication Curricula in Undergraduate Medical Education“, [8] das auch einen Ausgangspunkt der Lernzielentwicklung zur ärztlichen Gesprächsführung im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) dargestellt hat [9].

Zusammenfassender Überblick

  • Ausgangspunkt einer psychologischen Betrachtung sozialer Beziehungen sind Dyaden.
  • Menschen treten dann in soziale Interaktion miteinander, wenn das Verhalten der jeweiligen Beteiligten voneinander abhängig ist.
  • Soziale Beziehungen sind kognitiv als Selbstbild, Bild der Bezugsperson und Interaktionsskripte repräsentiert. Letztere enthalten situationsspezifische Interaktionsmuster, die Beziehungsschemata definieren.
  • Es lassen sich Rollenbeziehungen und persönliche Beziehungen unterscheiden. „Persönlich“ ist eine Beziehung dann, wenn die Interaktion nicht (nur) durch soziale Rollen erklärt werden kann.
  • Zentrale Qualitäten von Beziehungen zu verschiedenen Bezugspersonen sind Enge, Intimität, Sexualität, Unterstützung und Bindung. Funktionen unterschiedlicher Bezugspersonen sind Bindung, Verlässlichkeit, Selbstwertstärkung, soziale Integration, Beratung und die Gelegenheit zu eigener Unterstützung.
  • Bindung beschreibt, ob, inwieweit und wie Bezugspersonen aufgesucht werden, um Sicherheit zu erlangen. Es lassen sich sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen vier Bindungsstile unterscheiden. Individuelle Bindungsstile entwickeln sich dynamisch über die Lebensspanne.
  • Bindungssicherheit ist eine Entwicklungsressource für den Aufbau interpersonellen Vertrauens. Für das Vertrauen von Patienten in Ärzte spielen Erwartungen bzgl. ihrer Kompetenz, Patientenwohl-Orientierung, Kontrolle über entscheidungsrelevante Ressourcen, Offenheit, Informationen zu erheben und zu vermitteln, sowie ihrem Umgang mit vertraulichen Informationen eine Rolle.
  • Reziprozität, Risiko und Zeit sind zentrale Merkmale interpersonellen Vertrauens, die auch für Arbeitsbeziehungen zwischen Arzt und Patient von Bedeutung sind. Für den Aufbau von Vertrauen ist auch zu Beziehungsbeginn respektvoller, den Anderen achtender Umgang zwischen den Interaktionspartnern funktional.

1 Die folgende Darstellung bis einschließlich der bindungstheoretischen Grundlagen folgt im Wesentlichen [1].

2 Gemeint sind hier Bindungen zu unterschiedlichen Arten von Bezugspersonen (z.B. Eltern vs. Partner) und/oder zu unterschiedlichen Bezugspersonen derselben Art (z.B. unterschiedlichen Partnern).


References

[1] Asendorpf J, Banse R, Neyer F. Psychologie der Beziehung. 2nd ed. Göttingen: Hogrefe; 2017.
[2] Bowlby J. Attachment and loss: retrospect and prospect. Am J Orthopsychiatry. 1982 Oct;52(4):664-78. DOI: 10.1111/j.1939-0025.1982.tb01456.x
[3] Ainsworth MD. Attachments across the life span. Bull N Y Acad Med. 1985 Nov;61(9):792-812.
[4] Brandstädter J. Positive Entwicklung: Zur Psychologie gelingender Lebensführung. 2nd ed. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum; 2015. DOI: 10.1007/978-3-662-46946-0
[5] Schweer MKW, Thies B. Vertrauen. In: Auhagen AE, editor. Positive Psychologie: Anleitung zum "besseren" Leben. 2nd ed. Weinheim, Basel: Beltz; 2008. p. 136-49.
[6] Mechanic D. The functions and limitations of trust in the provision of medical care. J Health Polit Policy Law. 1998 Aug;23(4):661-86. DOI: 10.1215/03616878-23-4-661
[7] Silverman J, Kurtz S, Draper J. Skills for Communicating with Patients. 3rd ed. London: CRC Press; 2013. DOI: 10.7748/en.22.8.11.s14
[8] von Fragstein M, Silverman J, Cushing A, Quilligan S, Salisbury H, Wiskin C; UK Council for Clinical Communication Skills Teaching in Undergraduate Medical Education. UK consensus statement on the content of communication curricula in undergraduate medical education. Med Educ. 2008 Nov;42(11):1100-7. DOI: 10.1111/j.1365-2923.2008.03137.x
[9] Jünger J, Küllner V, von Lengerke T, Neuderth S, Schultz JH, Fischbeck S, Karger A, Kruse J, Weidner K, Henningsen P, Schiessl C, Ringel N, Fellmer-Drüg E. Kompetenzbasierter Lernzielkatalog "Ärztliche Gesprächsführung". Z Psychosom Med Psychother. 2016;62(1):5-19. DOI: 10.13109/zptm.2016.62.1.5