Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.6.3. Gesundheit und Krankheit

 Heiner Fangerau 1


1 Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland

2.6.3.1. Einleitung

Was ist gesund und was ist krank? Diese scheinbar leichte Frage ist umso schwieriger zu beantworten, je länger über sie nachgedacht wird.1 Die vielleicht intuitive Idee, dass ‚gesund‘ das Gegenteil von ‚krank‘ sei und alles, was subjektives Unwohlsein hervorruft, in die Kategorie Krankheit falle, löst sich auf, wenn man bedenkt, dass damit z.B. auch das Gefühl der Scham angesichts eigener Nacktheit als ‚krank‘ eingestuft werden müsste. Anders herum ist es eine Frage, ob Gesundheit nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation von 1946 jemals erreicht werden kann, wenn es doch darin heißt, Gesundheit sei „ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ [3].

Angesichts dieser Schwierigkeit existieren viele Krankheits- und Gesundheitsdefinitionen, die oft den jeweiligen Zielen der Definierenden angepasst werden. Im deutschen Sozialrecht beispielsweise wird Krankheit verstanden als 1. regelwidriger Zustand, der 2. zur Arbeitsunfähigkeit führt und 3. eine Behandlung notwendig macht. Das operationalisierbare Kernstück bildet hier die Frage der Arbeitsunfähigkeit, die Regelwidrigkeit und die Frage der Behandlung bleiben ohne weitere Bestimmung (siehe [4], S. 37). Jedoch birgt auch diese Orientierung offensichtliche Schwächen, denn jemand, der von anderen Personen als arbeitsfähig eingestuft wird, muss sich nicht notwendigerweise als ‚gesund‘ empfinden.

Alles in allem hat die Frage nach der Definition von Gesundheit und Krankheit verschiedenste Antworten hervorgebracht, von denen sich eine von Andrew Twaddle bereits in den 1960er-Jahren formulierte Trias aus medizinischer (vermeintlich objektivierter), subjektiver und sozialer Perspektive als tragfähiger Kompromiss herausgestellt hat [5]. Im Folgenden wird diese Trias vorgestellt und um eine weitere Dimension, nämlich die Zeit- und Kulturgebundenheit von Krankheit, erweitert. Zusätzlich werden bestimmte grundsätzliche Konzeptionen des medizinischen Blicks auf Krankheit unter Berücksichtigung dieser vier Dimensionen erläutert und durch Beispiele illustriert.

2.6.3.2. Krankheit als dimensionaler Begriff

Disease, Illness und Sickness

Die beispielsweise durch Ärzt/-innen nach medizinischen Kriterien festgestellte Krankheit wird in der englischsprachigen Diskussion oft als disease bezeichnet (hier und im Folgenden siehe [5]). Der Patient/die Patientin ist das Objekt der nach jeweils aktuellen medizinischen Standards erfolgenden Feststellung einer Krankheit. Die Feststellung erfolgt zum einen entlang eines zur jeweiligen Zeit gültigen axiomatischen Krankheitskatalogs bzw. einer Krankheitslehre (der Nosologie), zum anderen entlang der von dem/der jeweiligen Patienten/-in präsentierten Symptome. Die Symptome werden als objektivierbare, d.h. von individuellen Deutungen unabhängige Zeichen verstanden, die einzeln oder in Kombination für eine Krankheit nach dem gültigen nosologischen Katalog stehen.

Für die subjektive Empfindung des psychischen oder körperlichen Unwohlseins, das die Symptome begleitet, hervorruft oder selbst Symptom ist, hat sich in der englischen Diskussion der Begriff illness durchgesetzt. Der/die Patient/-in ist hier das Subjekt, das ein von ihm/ihr empfundenes Leid erlebt und gegebenenfalls artikuliert.

Mit Blick auf das soziale Umfeld eines/einer Patienten/-in wiederum müssen subjektives Leid und von Professionellen definierte Krankheit allerdings eine weitergehende Legitimation durch die anderen Mitglieder einer Gesellschaft erfahren. Nur, wenn die Anerkennung eines Zustands als ‚krank‘ durch die Gesellschaft erfolgt ist, wird beispielsweise ein Fernbleiben von der Arbeit akzeptiert. Die so anerkannte Krankheit wird auch mit dem Begriff sickness erfasst.

Zusammenfassend lassen sich also drei Dimensionen der Wahrnehmung voneinander abgrenzen, die gemeinsam das beschreiben, was Krankheit ist: a) das individuelle Empfinden einer Person (illness), b) die definitorische Beschreibung durch die medizinische Profession (disease), c) die Wahrnehmung und Deutung eines Zustands einer Person durch die Gesellschaft (sickness).

Zeitlichkeit als vierte Dimension

Eine vierte Dimension, die zu diesen drei Perspektiven eine kulturhistorische Komponente hinzufügt, erlaubt es, sich im Laufe der Jahre verändernde Krankheitsverständnisse in das Gesamtbild einzubeziehen.

Neue technische Verfahren etwa, die die Erhebung vorher nicht erkennbarer Zeichen erlauben, können die objektivierende Dimension verändern, indem sie dem ärztlichen Blick neue Kriterien hinzufügen. Die Erfindung des Fieberthermometers, des Blutdruckmessgerätes oder der Röntgentechnik stellen eindrückliche Beispiele für solche Veränderungen dar. War Fieber bis ins 18. Jahrhundert eher ein facettenreicher Zustand, der im Verständnis der damaligen Ärzte von Heimweh ebenso herrühren konnte, wie von Liebeskummer oder schlechter Luft (‚Malaria‘), so brachte das Fieberthermometer die Reduktion der Fieberdefinition auf eine Körperkerntemperatur (beim Menschen) von über 37,9 Grad mit sich [6]. Erziehung, Vorbilder, Geschlecht, Alter oder Gewöhnung wiederum, können im historischen Verlauf ebenfalls die subjektive Krankheitswahrnehmung beeinflussen. Die Entwicklung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse, des Sozialrechts oder der demografischen Zusammensetzung einer Gesellschaft zuletzt, können zur Veränderung der sozialen Anerkennung von Krankheitszuständen führen. Andersherum kann die soziale Anerkennung für Krankheiten auch verschwinden.

Mit den sich so verändernden Krankheitsbegriffen können sich auch mit ihnen zusammenhängende Konzeptionen des Normalen verschieben. Diese wiederum verweisen erneut auf unterschiedliche Referenzrahmen für das, was als normal begriffen wird: Die Idealnorm z.B. fragt nach dem idealen Zustand im Sinne einer Vorstellung von Idealität, die Funktionsnorm konzentriert sich auf das Funktionieren z.B. von Körperfunktionen, eine statistische Norm orientiert sich mathematisch an Mittelwerten und Standardabweichungen und die soziale Norm sucht z.B. nach dem in der Gesellschaft allgemein erwarteten Verhalten.

Veränderungen des Krankheitsbegriffs am Beispiel der ‚Nervosität‘
Dieser mit Abgeschlagenheit, Verdauungsstörungen oder Impotenz einhergehende Symptomkom­plex  wurde um 1900 zurückgeführt auf Eisenbahnunfälle, beruflichen Stress oder die Moderne im Allgemeinen. Als im Ersten Weltkrieg Soldaten in großer Zahl infolge dieser ‚Nervosität‘ dienstuntauglich wurden, schwand die gesellschaftliche Akzeptanz für die Erkrankung. Sie wurde von einer entschädigungsfähigen Krankheit zu einer schwächlichen Prädisposition umgedeutet, die keine Entschädigung verdiente.

2.6.3.3. Spannungen im Krankheitsbegriff

Zeitliche und kulturelle Verschiebungen im Wahrnehmungs- und Deutungsspektrum jeder einzelnen Dimension können zu Spannungen im Krankheitsbegriff führen und Diskussionen sowie Handlungs- und Definitionsdruck nach sich ziehen [7]. Wenn eine Person unter einem Zustand oder einem Ereignis physischer oder psychischer Natur leidet, die Gesellschaft den Zustand als Leiden akzeptiert und ihn – z.B. durch die Gewährung von Arbeitsbefreiung – zu kompensieren versucht, entsteht ein Druck auf die Ärzteschaft, diesen Zustand zu erforschen und im Sinne einer Nosologie zu beschreiben. Ähnliche Diskussionen treten auf, wenn beispielsweise Ärztinnen und Ärzte medizinisch eine Erkrankung definieren, die aber gesellschaftlich oder auch individuell nicht als solche anerkannt und begriffen wird. Z.B. herrschte nach dem Atomreaktorunfall in den 1980er-Jahren in Tschernobyl Dissens, ob die Spätfolgen (nicht die akuten Strahlenschäden), an denen in der Umgebung lebende Bewohner/-innen litten, auf Radiophobie zurückgeführt werden könnten oder ob sie biologische Folgen der Radioaktivität darstellten [8]. Die soziale Anerkennung für biologische Folgen wurde dabei eher gewährt als für Radiophobie.

Probleme treten also auf, wenn eine Spannung zwischen ‚krank‘ in der einen Dimension und ‚gesund‘ in der anderen Dimension besteht. Wenn sich z.B. eine Person gut fühlt, aber technisch Krankheitszeichen gefunden werden, tritt das scheinbare Paradox des gesunden Kranken auf (wie dies oft bei Früherkennungsuntersuchungen der Fall ist). Fühlt sich jemand schlecht, es finden sich aber keine objektiven Krankheitszeichen, rückt er/sie in die Nähe der Hypochondrie und es fehlt die soziale Anerkennung; so soll sich die Person ‚nicht so anstellen‘ und wird als ‚kranke gesunde‘ Person adressiert.

2.6.3.4. Ärztliche Handlungsorientierung und medizinische Konzepte von Krankheit

Die Handlungsorientierung ist ein besonderes Merkmal des ärztlichen Berufs und der medizinischen Disziplin. Da alles in der Medizin Kosten verursacht und weiterreichende, z.B. biografische oder gesellschaftliche Folgen hat, bedürfen medizinische Handlungen aber einer theoretischen Legitimation. Um nun Krankheitserscheinungen zu ordnen, ihre Entstehung zu erklären und Handlungen zu legitimieren [9], bemühen sich medizinische Wissenschaftler/-innen darum, Krankheiten zu konzeptualisieren. Zwei in der Vergangenheit dominante Richtungen lassen sich hier auf Konzeptebene differenzieren, wobei sich die beiden eher ergänzen als ausschließen:

Die eine sieht Krankheit und Gesundheit als sich ausschließende Phänomene. Sie wird als ontologisches oder substantielles Krankheitsverständnis [10] bezeichnet, da hier davon ausgegangen wird, dass Krankheiten konsistente, essentielle und fixierte Entitäten darstellen, die wie botanische Taxonomien betrachtet werden können und in Nosologien (Krankheitskatalogen) systematisch aufgeführt werden können.

Die andere Richtung betrachtet Krankheit und Gesundheit als zwei Pole eines Kontinuums, innerhalb dessen aber der Umschlagpunkt zwischen beiden Dimensionen nicht scharf bestimmbar ist. Dieses Krankheitsverständnis wird als kontinuierliches oder gradualistisches Konzept bezeichnet. Der Umschlagspunkt kann sich hier auf der Skala von ‚krank‘ bis ‚gesund‘ historisch kontingent durch sozio-kulturelle, interindividuelle oder definitorische Einflüsse verschieben [11]. Transformationen medizinischen Wissens, Technologieentwicklungen, Klimaveränderungen und Veränderung der Pathogenität von z.B. Bakterien und Viren stellen weitere Faktoren für Grenzverschiebungen dar. An diese Konzepte schließen sich beispielsweise Ansätze wie Aaron Antonovskys Salutogenese an, mit der er nicht danach fragt, was Menschen krank macht, sondern danach, was Menschen gesund hält.

Soziale Konstruktion von Krankheit

Da auch die Mediziner/-innen, die an der Erstellung von Krankheitskonzeptionen mitwirken, nicht frei von Interessen sind und öffentliche Forderungen sowie die Bereitstellung von Ressourcen ihr Handeln mitbestimmen, sprechen manche Autoren/-innen von der sozialen Konstruktion von Krankheit [12]. Diese Sichtweise ist für manche Krankheitserscheinungen weniger und für andere eher nachvollziehbar: Während Knochenbrüche beispielsweise deutlich und relativ statisch am pathologischen Ende der Skala liegen, können Fragen wie beispielsweise danach, wann ein Alkoholkonsum als Alkoholabhängigkeit verstanden wird, welcher Blutdruck als pathologisch gesehen oder wann bei einem lebhaften Kind eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung diagnostiziert wird, nicht unabhängig von sozio-kulturellen Kontexten beantwortet werden.

Gerade das gradualistische Krankheitsverständnis ist nun Ursprung gelegentlicher Diskussionen um den Krankheitswert bestimmter Phänomene. Wenn eine Gesellschaft etwa einen von Mediziner/-innen als Krankheit definierten Zustand nicht als krank begreifen will, so entsteht eine Spannung, die nur durch Entpathologisierung oder Pathologisierung gelöst werden kann, wenn sich also die eine oder andere Position im Zeitverlauf durchsetzt. Ein Beispiel stellt hier die Homosexualität dar, die bis in die 1990er-Jahre in Nosologien als pathologische Entität geführt wurde. Die Ausweitung medizinischer Deutungsmuster auf zuvor im Sozialen angesiedelte Bereiche wird dabei als Medikalisierung, das Aufgeben medizinischer Positionen im Gegenzug als Demedikalisierung bezeichnet [13]. Wenn z.B. in der Geschichte der Vorgang der Geburt von der Haus- und Hebammengeburt ins Krankenhaus unter ärztlicher Leitung verlagert wurde, wäre dieser Prozess als Medikalisierung zu verstehen. Ein Trend, der nun eine der Medizin ferne ‚natürliche‘ Geburt propagiert, wäre ein Beispiel für Demedikalisierung. Tendenziell werden diese Begriffe heute wertfrei genutzt, auch wenn die Medikalisierung gelegentlich negativ konnotiert wird, da sie mit der Gefahr verbunden wird, dass normale Erscheinungen aus z.B. ökonomischen Interessen heraus zu Krankheiten gemacht (i.e. pathologisiert) werden (siehe z.B. [14]).

2.6.3.5. Schluss

Die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit werden also permanent neu ausgehandelt. Akteurinnen und Akteure sind dabei neben Ärzt/-innen und Patient/-innen auch die Politik und die Wirtschaft. Für angehende Ärztinnen und Ärzte ist es dabei eventuell von Interesse, zu beobachten, in welcher Geschwindigkeit sich in bestimmten Bereichen das gerade erst erworbene Krankheitswissen und ‑handeln verschieben kann oder eine Neudefinition erfährt.

1. Die folgenden Überlegungen sind in anderer Form (in englischer Sprache mit engem Bezug zu Strahlungsschäden) bereits in einem Lehrbuch erschienen: Fangerau, Aziz und Chhem [1]; siehe auch [2].


References

[1] Fangerau H, Aziz AZ, Chhem RK. Disease, illness, and sickness: A contested boundary. In: Chhem RK, Clancey G, editors. Health in disasters: A science and technology studies practicum for medical students and healthcare professionals. Wien: IAEA, Human Health Campus; 2016. p.25-39. Available from: https://humanhealth.iaea.org/HHW/Latest/Health_in_Disasters/Handbook_Health_in_Disasters.pdf
[2] Fangerau H, Martin M. Konzepte von Gesundheit und Krankheit: die Historizität elementarer Lebenserscheinungen zwischen Qualität und Quantität. In: Viehöver W, Wehling P, editors. Entgrenzung der Medizin. Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen?. Bielefeld: Transcript; 2011. p.51-66. DOI: https://doi.org/10.14361/9783839413197
[3] Grad FP. The Preamble of the Constitution of the World Health Organization. Bull World Health Organ. 2002;80(12):981-984. Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2567708/pdf/12571728.pdf
[4] Niehoff J. Gesundheitssicherung, Gesundheitsversorgung, Gesundheitsmanagement: Grundlagen, Ziele, Aufgaben, Perspektiven. Berlin: MWV; 2008.
[5] Hofmann B. On the triad disease, illness and sickness. J Med Philos. 2002 Dec;27(6):651-73. DOI: 10.1076/jmep.27.6.651.13793
[6] Hess V. Der wohltemperierte Mensch. Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850-1900). Frankfurt am Main: Campus Verlag; 2000.
[7] Brown P. Naming and framing: the social construction of diagnosis and illness. J Health Soc Behav. 1995;Spec No:34-52. DOI: 10.2307/2626956
[8] Sarin R. Chernobyl, Fukushima, and beyond: a health safety perspective. J Cancer Res Ther. 2011 Apr-Jun;7(2):109-11. DOI: 10.4103/0973-1482.82908
[9] Rothschuh KE. Was ist Krankheit? Erscheinungen, Erklärungen, Sinngebungen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; 1975.
[10] Hofmann B. Complexity of the concept of disease as shown through rival theoretical frameworks. Theor Med Bioeth. 2001 Jun;22(3):211-36. DOI: 10.1023/a:1011416302494
[11] Cutter AD, Avilés L, Ward S. The proximate determinants of sex ratio in C. elegans populations. Genet Res. 2003 Apr;81(2):91-102. DOI: 10.1017/s001667230300613x
[12] Jordanova L. The social construction of medical knowledge. Soc Hist Med. 1995 Dec;8(3):361-81. DOI: 10.1093/shm/8.3.361
[13] Conrad P. Implications of changing social policy for the medicalization of deviance. Contemporary Crises. 1980;4(2): 195-205. DOI: 10.1007/BF00728366
[14] Illich I. Die Nemesis der Medizin – die Kritik der Medikalisierung des Lebens. 5. Auflage. München: Verlag C.H.Beck; 2007.