Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.6.4. Makrostrukturelle Faktoren

 Claus Wendt 1


1 Department of Social Sciences, University of Siegen, Siegen, Germany

In diesem Kapitel wird auf einen Ausschnitt wichtiger makrostruktureller Faktoren eingegangen, die für die Gesundheit und für gesundheitliche Ungleichheit von zentraler Bedeutung sind. Makrostrukturelle Faktoren sind z.B. das Wirtschaftssystem, das politische System oder die Sozialpolitik, die international unter dem Begriff Welfare State (Wohlfahrtsstaat) zusammengefasst wird. Der Fokus dieses Beitrags liegt vor allem auf dem Wohlfahrtsstaat. Makrostrukturelle Faktoren erfassen nicht nur institutionelle, sondern auch sozialstrukturelle Bedingungen eines Landes, wie die wirtschaftliche Situation und die Verteilung von Einkommen, Arbeitslosigkeit oder Armut, die in diesem Kapitel allerdings weitgehend ausgespart werden (siehe hierzu z.B. die Kapitel 2.6.5. und 2.6.6.). Als wichtiger Bestandteil des Wohlfahrtsstaates wird auch auf das Gesundheitssystem eingegangen, und es werden Zusammenhänge zwischen dem Gesundheitssystem und Gesundheit bzw. gesundheitlicher Ungleichheit diskutiert. Hier wird also gefragt, wie sich makrostrukturelle Faktoren auf individuelle Bedingungen auswirken (zu den rechtlichen Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems siehe Kapitel 3.1.1.).

Warum ist der Wohlfahrtsstaat für die Gesundheit und damit auch für Akteure im Gesundheitssystem wichtig? Sozialpolitische Leistungssysteme gewährleisten Sicherheit in sozialen Krisensituationen. Sie realisieren das Ziel einer finanziellen Umverteilung zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und damit, auf einem je nach Wohlfahrtsstaat unterschiedlichen Niveau, einen Schutz vor Armut und eine finanzielle Absicherung im Alter, bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Hinzu kommen finanzielle Leistungen oder soziale Dienstleistungen für Familien mit Kindern und in der Pflege. Fasst man den Begriff des Wohlfahrtsstaates etwas weiter, dann zählt auch das Bildungssystem dazu.

Da ein niedriges Einkommen und eine geringe Bildung mit erheblichen Gesundheitsrisiken zusammenhängen, trägt der soziale Ausgleich durch sozialpolitische Maßnahmen zu einer Verbesserung der Gesundheit, einer Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit und besseren Zugangschancen zu notwendigen Gesundheitsleistungen bei. Die Bedeutung einer finanziellen Absicherung in gesundheitlichen Krisensituationen kann anhand der Absicherung im Krankheitsfall besonders gut veranschaulicht werden. Einige Therapien sind finanziell so aufwändig, dass selbst bei einem weit überdurchschnittlichen Einkommen diese Kosten nicht individuell getragen werden können. Mit Ausnahme der Superreichen sind somit alle Mitglieder einer Gesellschaft auf eine Solidargemeinschaft angewiesen, um sich vor besonders hohen Risiken effektiv schützen zu können. Außerdem ist mit einer höheren Bildung eine bessere Gesundheit verbunden, die z.T. auf ein besseres Gesundheitsverhalten sowie ein höheres Niveau an Gesundheitskompetenzen zurückzuführen ist. Neben der finanziellen Situation und dem Bildungsniveau, die beide durch den Wohlfahrtsstaat beeinflusst werden, zeigen Studien, dass auch der individuelle Stress durch einen ausgebauten Wohlfahrtsstaat reduziert werden kann [1]. Da Stress und insbesondere chronischer Stress von hoher Relevanz für die Gesundheit ist, ist hierin ein weiterer gesundheitsrelevanter Einflussfaktor zu sehen.

Soziale Sicherungssysteme, und als ein wesentlicher Bestandteil das Gesundheitssystem, sind auf die Akzeptanz und damit die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Gleiches gilt für diejenigen, durch die Leistungen in diesen Systemen erbracht werden. Ohne eine Unterstützung der Produzenten sozialer Wohlfahrt können soziale Sicherungssysteme nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Entsprechend wichtig sind grundlegende Kenntnisse über Strukturen, Aufgaben und Wirkungen des Wohlfahrtsstaates einschließlich des Gesundheitssystems.

2.6.4.1. Wohlfahrtsstaaten

In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung orientiert man sich nach wie vor an den drei Wohlfahrtsstaats-Typen nach Esping-Andersen [2], der einen sozialdemokratischen, einen konservativ-korporatistischen und einen liberalen Wohlfahrtsstaat voneinander abgegrenzt hat. Hierbei geht es nicht um die Höhe der Sozialausgaben, sondern um die Gewährung sozialer Rechte und um das damit verbundene Schutzniveau.

Unterschieden werden Wohlfahrtsstaaten danach, zu welchem Ausmaß sie einen sozialen Schutz unabhängig von einer Erwerbstätigkeit auf dem Arbeitsmarkt ermöglichen. Hier besteht ein hoher Grad der Dekommodifizierung (siehe Tabelle 1). Eine Grundrente, die unabhängig von Vorversicherungszeiten ausgezahlt wird, ein Gesundheitssystem, das die Bevölkerung auf Grundlage der Staatsbürgerschaft absichert oder einkommensunabhängiges Kindergeld sind Beispiele für soziale Rechte, die von einer Erwerbstätigkeit abgekoppelt sind (= hohe Dekommodifizierung). In den von Esping-Andersen [2] als sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten bezeichneten Ländern wie Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland sind die sozialen Rechte umfassend ausgebaut. In konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland, Österreich und Frankreich ist der soziale Schutz auf einem mittleren Niveau. Und in liberalen Wohlfahrtsstaaten wie Großbritannien oder den Vereinigten Staaten bestehen vergleichsweise schwach ausgebaute soziale Rechte.

Tabelle 1: Typen von Wohlfahrtsstaaten nach Esping-Andersen [2]
  Sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten Konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaaten Liberale Wohlfahrtsstaaten
Abgrenzungskriterien Dekommodifizierung, Stratifizierung
Kennzeichen Hoher Grad der Dekommodifizierung, universelle Leistungen, Gleichheit beim Zugang zu Leistungen Mittlerer Grad der Dekommodifizierung, Leistungen in Abhängigkeit vom früheren Einkommen und von Beitragszahlungen Niedriger Grad der Dekommodifizierung, Leistungen sind in erheblichem Ausmaß abhängig von Marktkräften
Länderbeispiele Schweden, Dänemark, Finnland, Norwegen Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien Großbritannien, Vereinigte Staaten

Warum ist der teure deutsche Wohlfahrtsstaat gemäß dieser Einstufung nicht in der Spitzengruppe? Die Antwort hängt mit einem Grundprinzip deutscher Sozialpolitik zusammen, das auch andere konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaaten teilen. In Deutschland sind über das Sozialversicherungsprinzip wichtige sozialpolitische Leistungen wie Rente, Arbeitslosengeld oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bzw. das Krankengeld an den früheren Lohn geknüpft. Je höher das Einkommen, desto höher sind die Sozialversicherungsbeiträge sowie der damit verbundene Lohnersatz in Zeiten der Nichterwerbstätigkeit. Der soziale Status, der über eine Erwerbstätigkeit aufgebaut wird, wird durch die Ausgestaltung des deutschen Wohlfahrtsstaates geschützt. Für Bezieher geringer Einkommen bedeutet das, dass auch die Rente niedrig ist. 37,5% der Rentner und 65,3% der Rentnerinnen bezogen 2017 eine Rente von unter 900 Euro. Dadurch wird auch der Zugang zu Gesundheitsleistungen eingeschränkt, da private Zuzahlungen für Medikamente, Zahnersatz oder bei Krankenhausaufenthalten eine hohe finanzielle Belastung bedeuten können. Die Regelung, dass Patienten von weiteren Zuzahlungen befreit werden können, wenn zwei Prozent des jährlichen Bruttoeinkommens (bei chronisch Kranken ein Prozent) überschritten werden, reicht für diese Zielgruppe oft nicht aus, da viele von ihnen mit einem Antrag auf Befreiung von Zuzahlungen aufgrund eines zu niedrigen Einkommens eine Stigmatisierung verbinden [3]. Vor allem in ländlichen Regionen können mit einem Arztbesuch außerdem hohe Fahrtkosten verbunden sein. Auch ein gesundheitsfördernder Lebensstil wird bei einem niedrigen Einkommen erschwert.

Wie können Armut und Ungleichheit, die sich sehr negativ auf die Gesundheit und die Zugangschancen zu Gesundheitsleistungen auswirken, effektiv bekämpft werden? Die schwedischen Soziologen Walter Korpi und Joakim Palme [4] haben in einer vergleichenden Studie darauf hingewiesen, dass nicht notwendigerweise Wohlfahrtsstaaten mit Systemen, die speziell auf ärmere Menschen ausgerichtet sind (targeted programs), Armut und Ungleichheit besonders effektiv bekämpfen, sondern dass es häufig universelle Programme sind, die in dieser Hinsicht besonders erfolgreich sind (universal programs). Universelle Programme finden wir vor allem in „sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten“. Dieses von Korpi und Palme so genannte „paradox of redistribution“ [4] sei darauf zurückzuführen, dass bei einer Ausweitung der Programme auf die Mittelschicht die Zustimmung zu sozialpolitischen Leistungssystemen höher sei und dadurch eine Legitimation für eine stärkere finanzielle Umverteilung entstehe. Programme, die zielgerichtet auf arme Menschen zugeschnitten sind, führen danach nicht nur zu einer Stigmatisierung, sondern auch dazu, dass die Unterstützung für eine Umverteilung sinkt. Brady und Bostic [5] bestätigen in einer Studie mit neueren Daten und einem größeren Ländersample weitgehend die Ergebnisse von Korpi und Palme. Demnach wird Armut vor allem durch universalistische Transfersysteme mit einem hohen Leistungsniveau reduziert. Die Zustimmung zu einer finanziellen Umverteilung sinkt, wenn Leistungen vor allem auf die untersten Einkommensgruppen ausgerichtet sind.

Diese Ergebnisse sind auch für unsere Perspektive auf das Gesundheitssystem relevant. Wir wissen, dass nicht nur am unteren Rand der Gesellschaft gesundheitliche Problemlagen anzutreffen sind. Gesundheit betrifft die gesamte Gesellschaft. Aber: mit jedem Schritt, den man auf der sozialen Leiter nach oben geht, verbessert sich auch die Gesundheit – und umgekehrt. Das nennt man den sozialen Gradienten der Gesundheit. Entsprechend wichtig ist es, gerade gesundheitliche Leistungen auf die gesamte Gesellschaft, also universell, auszurichten.

Umgekehrt bedeutet das nicht, dass stärker universell ausgerichtete „sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten“ zwangsläufig ‚teurer‘ sind. In Abbildung 1 ist zu sehen, dass zwar die „liberalen Wohlfahrtsstaaten“ wie erwartet niedrige Sozialausgaben aufweisen. An der Spitze finden sich jedoch noch vor den „sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten“ Schweden und Dänemark die „konservativen Wohlfahrtsstaaten“ Frankreich mit 31,5% des Bruttoinlandprodukts (BIP) und Belgien mit 29% des BIP.

Abbildung 1: Öffentliche Sozialausgaben in ausgewählten Ländern in Prozent des Bruttoinlandprodukts (eigene Darstellung nach OECD [6])

2.6.4.2. Gesundheitssysteme

Ähnlich wie bei einem Vergleich von Wohlfahrtsstaaten sind auch Gesundheitssysteme durch eine große Vielfalt in der Finanzierung, Organisation und Leistungserbringung gekennzeichnet. Orientiert man sich an ihrer historischen Entwicklung, kann man die früh entstandenen gesetzlichen Krankenversicherungssysteme (z.B. Deutschland, Österreich, Frankreich) von nationalen Gesundheitssystemen (z.B. Großbritannien, Schweden, Dänemark) und von privaten Krankenversicherungssystemen (z.B. USA) unterscheiden. Eine solche Differenzierung ist sinnvoll, solange man sich vor allem für die Form der Finanzierung und grundlegende Organisationsprinzipien interessiert. So wird das Gesundheitssystem von Deutschland vor allem über gesetzliche Krankenversicherungsbeiträge finanziert und durch Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung (Krankenkassenverbände und Kassenärztliche Vereinigungen) bei staatlicher Rahmengesetzgebung organisiert (vgl. Kapitel 3.1.). Das nationale Gesundheitssystem Großbritanniens (National Health Service) wird demgegenüber schwerpunktmäßig aus Steuermitteln finanziert und durch staatliche Stellen organisiert. Im Vergleich dazu ist das Gesundheitssystem der USA sehr viel komplexer. Der Schwerpunkt der Absicherung liegt auf privaten Krankenversicherungen. Zusätzlich gibt es aber Bereiche, die über Sozialversicherungsbeiträge (Medicare für Menschen über 65 Jahre) oder aus Steuermitteln (Medicaid für arme Haushalte, Veterans Healthcare) finanziert werden.

 
Tabelle 2: Typen von Gesundheitssystemen
  Nationale Gesundheitssysteme Gesetzliche Krankenversicherungs-
systeme
Private Krankenversicherungs-
systeme
Abgrenzungskriterien Finanzierung, Regulierung, Leistungserbringung
Kennzeichen Steuerfinanzierung, staatliche Regulierung (nationale, regionale und lokale Ebene), private und staatliche Leistungserbringung Finanzierung über Sozialversicherungs­beiträge, hoher Grad der Selbstregulierung (Ärzteverbände, Gesetzliche Krankenversicherung), private und staatliche Leistungserbringung Finanzierung über private Krankenver­sicherungsbeiträge, Steuerung über den Markt (Wettbewerb), private Leistungserbringung
Länderbeispiele Großbritannien, Schweden, Dänemark, Norwegen Deutschland, Österreich, Frankreich, Belgien Vereinigte Staaten

Das US-amerikanische Gesundheitssystem ist ein Beispiel dafür, dass ein Gesundheitsmarkt nicht wie ein normaler Markt funktionieren kann. Da Menschen in einer gesundheitlichen Notsituation nahezu jeden Preis zahlen würden, um wieder gesund zu werden, muss die Preisbildung durch staatliche Akteure, die gesamtgesellschaftlichen Werten und Interessen verpflichtet sind, erfolgen und nicht über den Markt gesteuert werden (Quelle für alle Prozentangaben in diesem Absatz: [7], S. 123). In den USA, in denen die Absicherung im Krankheitsfall stärker als in anderen Ländern über private Krankenversicherungen erfolgt, betragen die Gesamtausgaben im Jahr 2016 mehr als 17% des BIP. Deutschland zählt bei den Gesamtausgaben in Europa zur Spitzengruppe. Problematisch ist vor allem die Höhe des Krankenversicherungsbeitrags, der allerdings in den letzten Jahren leicht gesunken ist und im Jahr 2017 für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen bei 14,6% lag. Da noch weitere Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen sind (Rentenversicherung 18,7%, Arbeitslosenversicherung 3%, Pflegeversicherung 2,55%), ist eine hohe Abgabenlast in Deutschland zu verzeichnen. Die soziale Krankenversicherung Österreichs, die ansonsten dem deutschen Gesundheitssystem sehr ähnelt, ist ein Beispiel dafür, dass ein deutlich niedrigerer Beitragssatz möglich ist. In Österreich betrug der Beitragssatz für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen 7,65% (2017). Für diesen vergleichsweise niedrigen Beitragssatz gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens wird der Beitragssatz schon deutlich länger als in Deutschland staatlich festgesetzt. Zweitens werden mehr als 30% der Gesamtausgaben in Österreich aus allgemeinen Steuermitteln finanziert und nur 45% aus Sozialversicherungsbeiträgen. In Deutschland beträgt der Anteil der Steuerfinanzierung weniger als 7% und der Anteil der Sozialversicherungsfinanzierung 78% ([7], S. 123). Entsprechend ist in Österreich die Finanzierungsbasis breiter, kapitalintensive Unternehmen tragen in höherem Ausmaß zur Finanzierung des Gesundheitssystems bei, und der Faktor Arbeit wird weniger belastet als es in Deutschland der Fall ist.

Abbildung 2: Gesamtausgaben für Gesundheit (öffentlich und privat) in ausgewählten Ländern in Prozent des Bruttoinlandprodukts (eigene Darstellung nach OECD [7])

2.6.4.3. Wohlfahrtsstaaten, Gesundheitssysteme und Gesundheit

In diesem Abschnitt soll noch einmal die Bedeutung von Wohlfahrtsstaaten und Gesundheitssystemen für Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit hervorgehoben werden. Soziale Sicherungssysteme sind kein Selbstzweck, sondern entstanden aus der Wahrnehmung sozialer Problemlagen. In ihrem Buch The Spirit Level entwickeln Kate Pickett und Richard Wilkinson [8] das Argument, dass eine ausgeprägte soziale Ungleichheit in Gesellschaften zu einer niedrigen Lebenszufriedenheit, hohem Stress und einer schlechten Gesundheit beitrage. Soziale Ungleichheit führt danach nicht nur zu großen gesundheitlichen Unterschieden, sondern senkt durch die mit der Ungleichheit verbundenen Belastungen auch das durchschnittliche Gesundheitsniveau der jeweiligen Gesellschaft. Umgekehrt würden Menschen in ausgebauten Wohlfahrtsstaaten, die zu mehr sozioökonomischer Gleichheit beitragen, ein höheres Vertrauen in die handelnden Akteure entwickeln und die sozialpolitischen Leistungssysteme, an denen sie partizipieren, stärker unterstützen; entsprechend seien die mit Ungleichheit verbundenen Belastungen geringer [8].

In mehreren vergleichenden Studien wurde untersucht, wie sich unterschiedlich aufgebaute Wohlfahrtsstaaten auf Gesundheit und gesundheitliche Ungleichheit auswirken. Die vergleichenden Studien zeigen, dass vor allem die sozialdemokratischen einen positiveren Effekt auf gesundheitliche Ungleichheit aufweisen als süd- oder osteuropäische Leistungssysteme. Während diese Ergebnisse weitgehend den Erwartungen entsprachen, die man mit unterschiedlich ausgestalteten Wohlfahrtsstaaten verbunden hatte, zeigen Eikemo et al. [9] in einer Studie mit aktuelleren Daten, dass zwar wie erwartet in liberalen Wohlfahrtsstaaten die einkommensabhängige gesundheitliche Ungleichheit am höchsten ist. Es sind danach aber nicht die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten, in denen Einkommen den geringsten Einfluss auf gesundheitliche Ungleichheit hat, sondern die konservativ-korporatistischen Länder wie Deutschland oder Frankreich. Dieses Muster – mit der höchsten Ungleichheit in liberalen Wohlfahrtsstaaten und vergleichsweise guten Werten in konservativ-korporatistischen Ländern, während die sozialdemokratischen Systeme Skandinaviens eine mittlere Position aufweisen – wurde in weiteren Studien bestätigt. Eine mögliche Erklärung für das Muster ist, dass das Leistungsniveau in den konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaaten trotz der bestehenden Ungleichheit für den überwiegenden Teil der Bevölkerung ausreichend hoch ist und derzeit das Ziel einer hohen sozialen und gesundheitlichen Sicherheit weitgehend erreicht wird.

 

2.6.4.4. Zusammenfassung und Fazit

Vergleicht man Deutschland mit einer Auswahl weiterer Länder (siehe Tabelle 3), dann zeigt sich das Bild eines Gesundheitssystems mit vergleichsweise hohen Ausgaben, das in einen konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaat eingebettet ist, der ebenfalls ein hohes öffentliches Ausgabenniveau aufweist. Vergleichende Studien zeigen, dass Deutschland bei der Reduzierung der Kindersterblichkeit besonders erfolgreich ist und auch in Bezug auf die gesundheitliche Ungleichheit positive Werte aufweist [9], [10], [11]. Allerdings befindet sich Deutschland unter den entwickelten Industrieländern bei der „beeinflussbaren Gesundheit“ im Mittelfeld, und beim Facharztbesuch bestehen vergleichsweise hohe Ungleichheiten zwischen unterschiedlichen Bildungsgruppen, was die Zugangschancen zu Gesundheitsleistungen angeht [10], [11]. Vor allem in Bezug auf die Gleichheit von Zugangschancen und auch bei der „beeinflussbaren Gesundheit“ weist vor allem Schweden Vorteile gegenüber Deutschland auf.

Tabelle 3: Deutschland im Vergleich mit ausgewählten Ländern
  Deutschland Schweden Großbritannien USA
Öffentliche Sozialausgaben in Prozent des BIP 25,3% 27,1% 21,5% 19,3%
Gesamtausgaben für Gesundheit in Prozent des BIP 11,3% 11,0% 9,7% 17,2%
Wohlfahrtsstaat „konservativ-korporativ“ „sozialdemokratisch“ „liberal“ „liberal“
Gesundheitssystem Gesetzliche Kranken­versicherung Nationales Gesundheits­system Nationales Gesundheits­system Privates
Krankenver­sicherungssystem
Auswirkungen (bei „+“: die besten Werte in den jeweiligen Studien)
Kindersterblichkeit +      
Gesundheitliche Ungleichheit + + +  
„beeinflussbare Gesundheit“   +    
Gleichheit der Zugangschancen   + +  

Besonders schlecht schneidet das weitgehend über private Krankenversicherungen finanzierte Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten ab, das trotz sehr hoher Kosten bei wichtigen Gesundheitsindikatoren eine hohe Ungleichheit und niedrige Werte bei der „beeinflussbaren Gesundheit“ aufweist.

Die „sozialdemokratischen“ Wohlfahrtsstaaten weisen durch ihre universelle Ausrichtung Erfolge bei der Reduzierung sozialer Ungleichheit und Armut sowie in Bezug auf Verbesserungen der Chancengleichheit in der Bildung auf. Diese und weitere makrostrukturelle Faktoren sind für die Verbesserung der Gesundheit und die Zugangschancen zu wichtigen Gesundheitsleistungen hochrelevant. Bei der Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit haben allerdings auch die „sozialdemokratischen“ Wohlfahrtsstaaten nach wie vor einen Nachholbedarf.


References

[1] Bambra C. Work, worklessness, and the political economy of health. Oxford: Oxford University Press; 2011.
[2] Esping-Andersen G. The three worlds of welfare capitalism. Cambridge: Polity Press; 1990.
[3] Wendt C. Krankenversicherung oder Gesundheitsversorgung? Gesundheitssysteme im Vergleich. 3rd ed. Wiesbaden: VS-Verlag; 2013.
[4] Korpi W, Palme J. The paradox of redistribution and strategies of equality: welfare state institutions, inequality, and poverty in the Western countries. Am Sociol Rev. 1998 Oct;63(5):661-87. DOI: https://doi.org/10.2307/2657333
[5] Brady D, Bostic A. Paradoxes of social policy: welfare transfers, relative poverty, and redistribution preferences. Am Sociol Rev. 2015;80(2):268-98. DOI: https://doi.org/10.1177/0003122415573049
[6] OECD. OECD social expenditure statistics: social expenditure – aggregated data. Paris: OECD; 2017 [cited 2017 Sept 28]. Available from: http://dx.doi.org/10.1787/data-00166-en
[7] OECD. Health at a glance: Europe 2016 – State of health in the EU cycle. Paris: OECD; 2016 [cited 2017 Sept 28]. Available from: http://dx.doi.org/10.1787/9789264265592-en
[8] Pickett K, Wilkinson RG. The spirit level: why equality is better for everyone. London: Penguin; 2010.
[9] Eikemo TA, Bambra C, Huijts T, Fitzgerald R. The first pan-European sociological health inequalities survey of the general population: the European Social Survey rotating module on the social determinants of health. European Sociological Review. 2017 Feb;33(1):137-53. DOI: https://doi.org/10.1093/esr/jcw019
[10] Nolte E, McKee M. Variations in amenable mortality – trends in 16 high-income nations. Health Policy. 2011 Nov;103(1):47-52. DOI: https://doi.org/10.1016/j.healthpol.2011.08.002
[11] Barber RM, Fullman N, Sorensen RJD, Bollyky T, McKee M, Nolte E, et al. Healthcare access and quality index based on mortality from causes amenable to personal health care in 195 countries and territories, 1990-2015: a novel analysis from the Global Burden of Disease Study 2015. The Lancet. 2017 Jul 15;390(10091):231-66. DOI: https://doi.org/10.1016/s0140-6736(17)30818-8