Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


4.2. Strukturelle Aspekte der Arzt-Patient-Beziehung

 Olaf von dem Knesebeck 1


1 Institut für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Germany

„Worte sind das mächtigste Werkzeug, über das ein Arzt verfügt. Worte können allerdings – wie ein zweischneidiges Schwert sowohl tief verletzen, als auch heilen.“ ([1], S. 63)

Das obige Zitat von Bernard Lown verdeutlicht, dass Sprache das zentrale Element in der Arzt-Patient-Beziehung darstellt. Deshalb wurden im vorangegangenen Kapitel ausführlich die Grundlagen der Kommunikation thematisiert. In diesem Kapitel werden die strukturellen Aspekte der Arzt-Patient-Beziehung thematisiert. Zunächst wird auf Erwartungen eingegangen, die von Patienten und Ärzten an die Beziehung herangetragen werden. Sodann werden der Aufbau und die asymmetrische Struktur der Arzt-Patient-Beziehung skizziert. Das Kapitel schließt mit der Darstellung von Modellen und aktuellen Entwicklungen der Arzt-Patient-Beziehung.

4.2.1. Erwartungen an die Arzt-Patient-Beziehung

Die Erwartungen und Bedürfnisse von Patienten bei der Konsultation eines Arztes sind darauf gerichtet, Informationen zu erhalten sowie emotionale Unterstützung und Hilfestellung zu bekommen. Damit besteht eine zentrale Patientenerwartung darin, dass Informationsbedürfnisse vom Arzt befriedigt werden. In diesem Zusammenhang lassen sich kognitive und pragmatische Informationsbedürfnisse unterscheiden. Die kognitive Dimension bezieht sich auf Informationen, die es dem Patienten ermöglichen, die Ursachen, die Diagnose, den Verlauf und die Therapie der Erkrankung zu verstehen und zu akzeptieren. Die pragmatische Dimension betrifft die praktischen Konsequenzen, die sich aus der Erkrankung ergeben. Hierunter fallen Informationen zum Umgang mit und zur Bewältigung der Erkrankung, zum Gesundheits- und Krankheitsverhalten (z.B. Medikamenteneinnahme) und zu den Folgen für den Alltag (z.B. Einschränkungen bei der beruflichen Tätigkeit) sowie für die Lebensführung (z.B. Änderung von Verhaltensweisen). Es ist bekannt, dass die meisten Patienten insbesondere im Krankenhaus stark ausgeprägte kognitive und pragmatische Informationsbedürfnisse haben. Allerdings gibt es auch Patienten, die keine oder nur gering ausgeprägte Informationsbedürfnisse haben oder diese unterdrücken (Verhaltensstil des Repressors vs. Sensitizers, s. Kapitel 2.3. und Kapitel 3.2.1.). Für den Arzt bedeutet dies, dass er zunächst den Informationsstand und die -bedürfnisse erfragen sollte. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei vielen Patienten am Ende einer Konsultation ein Aufklärungs- und Informationsdefizit besteht mit potentiell negativen Folgen für die Patientenzufriedenheit, die Compliance bzw. Adhärenz (s. Kapitel 4.3.), den Heilungs- bzw. Erkrankungsverlauf (s. Kapitel 3.2.1.) und das Vertrauen in den Arzt. Die Möglichkeiten für den Arzt, ein solches Defizit zu verhindern oder zu reduzieren, werden in Kapitel 4.3. erörtert.

Darüber hinaus besteht bei den meisten Patienten ein Bedürfnis nach emotionaler Unterstützung, die z.B. in Trost, Aufmunterung oder Anteil- und Rücksichtnahme bestehen kann. Um den Erwartungen und Bedürfnissen des Patienten gerecht zu werden, ist es wichtig, dass der Arzt sich Zeit und die Anliegen und Ausführungen des Patienten ernst nimmt. Dies stellt vor dem Hintergrund von organisatorischen Gegebenheiten (z.B. Zeitdruck) eine große Herausforderung für Ärzte dar. Allerdings hängt das subjektive Empfinden der Patienten, ob sich die Ärzte Zeit genommen haben oder nicht, weniger von der tatsächlichen Dauer der Konsultation ab, sondern eher davon, wie sie gestaltet wurde. So neigen Patienten dazu, die Gesprächsdauer eher zu überschätzen, wenn das Gespräch gut gestaltet war. Dies bedeutet, dass gut gestaltete Gespräche nicht länger dauern müssen und dass Zeitdruck dem Bedürfnis der Patienten, dass man sich Zeit für sie nimmt, nicht entgegenstehen muss. Es kommt insbesondere auf die Qualität der gewidmeten Zeit an, weniger auf die Zeitdauer selbst.

Selbstverständlich haben auch Ärzte Erwartungen an die Arzt-Patient-Beziehung. Für sie steht der Aufbau eines vertrauensvollen Verhältnisses sowie die Informationsgewinnung und -vermittlung im Vordergrund. Im Rahmen der Anamnese wird die Vorgeschichte eines Patienten in Bezug auf seine aktuellen Beschwerden erhoben. Die auf Informationsgewinnung zielende Anamnese ist somit eine wesentliche Grundlage für das Stellen einer Diagnose. In diesem Zusammenhang ist es für den Arzt wichtig, dass der Patient offen, transparent und wahrheitsgemäß über seine Beschwerden und relevante Risiko- und Schutzfaktoren berichtet. Dem entgegen stünden z.B. die Aggravation, also die bewusste Übertreibung von Beschwerden, die Simulation, also die bewusste Vortäuschung von Beschwerden und die Dissimulation, das Herunterspielen von Beschwerden. Damit solche Fehlinformationen verhindert werden, ist es wichtig, dass der Arzt die Grundlagen für eine vertrauensvolle Gesprächssituation schafft (s.u. Kasten zu Grundhaltungen für eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung)

Auf der Grundlage dieser Informationsgewinnung ist es das Ziel, die Beschwerden abzuklären, zu behandeln und zu lindern. Im Hinblick auf die Informationsvermittlung ist es für den Arzt nicht nur wichtig, dass der Patient alle relevanten Informationen erhält und versteht, sondern auch, dass der Patient mit dem Gespräch zufrieden ist. Dies ist eine Voraussetzung für die Erfüllung einer weiteren ärztlichen Erwartung, nämlich dass der Patient sich in den therapeutischen Verlauf konstruktiv und zuverlässig einbringt, also sich z.B. an ärztliche Empfehlungen hält (Compliance, s. Kapitel 4.3.).

4.2.2. Aufbau der Arzt-Patient-Beziehung

Die Beziehung zwischen Arzt und Patient weist eine Reihe spezifischer Merkmale auf, die sie von anderen Dyaden (= Zweierbeziehungen) unterscheidet. Soziologisch betrachtet handelt es sich um eine asymmetrische Beziehung, da Arzt und Patient nicht über die gleiche Stellung bzw. Macht verfügen. Vielmehr besteht ein Machtgefälle in dreifacher Hinsicht ([2], S. 251).

  • Expertenmacht: Da der Arzt Experte ist, verfügt er über einen Informations- und Wissensvorsprung gegenüber dem Patienten, der in der Regel hilfesuchender Laie ist.
  • Definitionsmacht: Verbunden mit der Arztrolle (s. Kapitel 3.3.2.) verfügt der Arzt über mehr Definitionsmacht z.B. im Hinblick auf die Diagnosestellung und Krankschreibung. Demgegenüber sieht die Krankenrolle (s. Kapitel 3.2.2.) vor, dass der Patient ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt und ärztliche Empfehlungen berücksichtigt.
  • Steuerungsmacht: Der Arzt ist aufgrund seiner Stellung eher in der Lage, die Interaktion mit dem Patienten zu steuern. Er bestimmt in der Regel Beginn, Verlauf und Ende der Konsultation.

Die Arzt-Patient-Beziehung ist asymmetrisch im Hinblick auf die Verteilung von Experten-, Definitions- und Steuerungsmacht.

Das Ausmaß der Asymmetrie in der Arzt-Patient-Beziehung variiert. Dabei sind Merkmale des Patienten (z.B. Bildung, soziokultureller Hintergrund) und der organisatorische Rahmen bzw. der Kontext der Arzt-Patient-Beziehung von Bedeutung.

Sozioökonomische und soziokulturelle Merkmale des Patienten (z.B. niedrige Bildung, Migrationshintergrund oder Sprachbarrieren) können dazu beitragen, dass die Asymmetrie zunimmt. Zur Verdeutlichung dieses Problems kann auf die von Basil Bernstein [3] herausgearbeiteten Sprachcodes Bezug genommen werden. Er unterschied zwischen elaboriertem und restringiertem Code. Der elaborierte Sprachcode ist typisch für die Mittel- und Oberschicht und zeichnet sich durch einen häufigen Gebrauch von Konjunktiven und Adverbien, die Verwendung aller Zeitformen, einen umfangreichen Wortschatz, eine häufige Verwendung von unpersönlichen Pronomen (z.B. „man“ oder „es“) und Substantiven sowie durch komplexere, längere Sätze aus (Beispiel: „Eine mögliche Ursache für ihre Beschwerden könnte in ihrer unausgewogenen Ernährung liegen.“). Demgegenüber ist der in niedrigen sozialen Schichten verbreitete restringierte Code durch kurze, häufig unvollständige Sätze, Dominieren des Präsenz, seltenen Gebrauch von Konjunktiv, unpersönlichen Pronomen und Adverbien sowie durch einen begrenzten Wortschatz charakterisiert (Beispiel: „Muss ich mit den Süßigkeiten aufhören? Gehen dann die Bauchschmerzen weg?“).

Ärzte verwenden im Allgemeinen einen elaborierten Sprachcode und Patienten mit niedriger Bildung haben häufig Schwierigkeiten, diesen zu verstehen. Zudem gelingt es diesen Patienten weniger gut, ihre Anliegen und Informationsbedürfnisse zum Ausdruck zu bringen. So ist die Dauer der Konsultation und die Zahl der ungefragt und freiwillig gegebenen Informationen von Seiten des Arztes bei Patienten mit niedriger Bildung geringer. Diesen Patienten fällt es auch schwerer, von sich aus Fragen zu stellen und ihre Erwartungen zu formulieren ([2], S. 253).

Im Hinblick auf den organisatorischen Kontext ist davon auszugehen, dass das Ausmaß an Asymmetrie in der Arztpraxis geringer ausgeprägt ist als im Krankenhaus. In der ambulanten Versorgung haben Patienten mehr Wahlmöglichkeiten und Verhandlungsmacht als im Krankenhaus, wo sie Organisationszwängen unterworfen und ihre Selbständigkeit wie auch ihre Handlungsmöglichkeiten durch gesundheitliche Einschränkungen begrenzt sind. Organisationszwänge in Krankenhäusern führen u.a. dazu, dass Patienten ständig erreichbar sein müssen, kaum Rückzugs- und Wahlmöglichkeiten haben, auch kurzfristige Umdispositionen und Unterbrechungen hinnehmen müssen und dass der Tagesablauf weitgehend vorgegeben ist. Angesichts solcher Zwänge und Reglementierungen und der damit einhergehenden Asymmetrie stellt die erfolgreiche Gestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung eine besondere Herausforderung dar.

Aus Studien zur Kommunikation im Krankenhaus ist bekannt, dass viele Patienten zwar ein ausgeprägtes Informationsbedürfnis haben, aber nur wenige Fragen stellen. Demzufolge kann der Arzt nicht davon ausgehen, dass Patienten, die keine Fragen stellen, keine Informationen wünschen. Vielmehr wird die Artikulation der Informationsbedürfnisse häufig aus unterschiedlichen Gründen (z.B. Hemmungen, Zeitdruck) unterdrückt. Eine Konsequenz ist, dass viele Patienten am Ende des Krankenhausaufenthaltes nicht ausreichend über Ursachen, Diagnose und Therapie ihrer Erkrankung informiert sind. Studienergebnisse machen zudem deutlich, dass Patienten häufig nach kurzer Zeit vom Arzt z.B. bei der Visite unterbrochen werden. Eine solche Kommunikation, nicht erfüllte Informationsbedürfnisse sowie ein Wissens- bzw. Informationsdefizit wirken sich negativ auf die Patientenzufriedenheit, die Compliance bzw. Adhärenz, den Heilungs- bzw. Erkrankungsverlauf und das Vertrauen in den Arzt aus.

Drei Grundhaltungen gelten für den Aufbau einer vertrauensvollen Arzt-Patient-Beziehung als wesentlich:

 

  • Positive Wertschätzung: Die Arzt-Patient-Beziehung sollte auf gegenseitiger Achtung beruhen. Patienten sollten die Erfahrung machen, dass man sie, so wie sie sind, ernst nimmt, akzeptiert und schätzt.
  • Empathie: Der Arzt sollte sich in den Patienten einfühlen, d.h. seine Gefühle wahrnehmen und angemessen darauf reagieren.
  • Echtheit/Kongruenz: Das Verhalten sollte mit den inneren Einstellungen übereinstimmen. Überzeugungen sollten überlegt und klar zum Ausdruck gebracht werden.

Diese drei Grundhaltungen basieren auf der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers (s. Kapitel 5.3.2.3.). Sie haben sich jedoch generell als essentiell für die Gestaltung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung, auch im ärztlichen Kontext, erwiesen. Patienten, die wertgeschätzt sind, bauen leichter das nötige Vertrauen auf, um einerseits ehrlich über sich zu berichten und andererseits auch ärztlichen Ratschlägen zu glauben. In dem Maß, in dem der Arzt empathisch ist, wird er den Patienten besser verstehen, Missverständnisse vermeiden können und das Zutrauen des Patienten stärken, dass seine individuelle Situation ausreichend berücksichtigt wurde. Die in Kapitel 4.1. beschriebenen Kennzeichen aktiven Zuhörens können das Resultat einer solchen empathischen Grundhaltung sein. Ist der Arzt in seinem Verhalten dagegen nicht echt und kongruent, so wird dies das Gegenüber schnell durchschauen und das Vertrauen in ihn verlieren. Damit wird auch deutlich, dass die drei Grundhaltungen tatsächlich innere Haltungen reflektieren und nicht etwa nur Techniken darstellen, die man anwendet, oder Rollen, die man spielt. Die Einnahme dieser Haltungen wird häufig durch ein grundlegendes Missverständnis erschwert, was die Haltung der positiven Wertschätzung betrifft. Eine wertschätzende Haltung bedeutet keinesfalls, dass man inakzeptable Verhaltensweisen akzeptieren sollte. Die Haltung bezieht sich auf die Person, nicht auf deren Verhalten. Die Akzeptanz einer Person kann auch im Bewusstsein der Tatsache erfolgen, dass diese sich falsch verhält. Sie sollte umgekehrt weder vom „Wohlverhalten“ der Person noch von persönlicher Antipathie oder Sympathie abhängig sein.

4.2.3. Formen der Arzt-Patient-Beziehung

Wie bereits einleitend bemerkt, kommt dem Austausch von Informationen in der Arzt-Patient-Beziehung eine besondere Bedeutung zu. Basierend auf diesen Informationen werden Entscheidungen getroffen, welche die diagnostischen Maßnahmen, Diagnosen und Behandlungen betreffen. Es wird verstärkt gefordert, Patienten in medizinische Entscheidungen einzubeziehen, damit deren Lebensumstände, Erwartungen und Wünsche angemessen berücksichtigt werden können. In diesem Zusammenhang werden drei Modelle der Arzt-Patient-Beziehung unterschieden. Zentrale Unterscheidungskriterien sind die Richtung des Informationsaustauschs, die Kontrolle über die Information und die Kontrolle über die Entscheidung.

Im paternalistischen Modell, das der traditionellen, lange Zeit vorherrschenden Auffassung einer Arzt-Patient-Beziehung entspricht, trifft der Arzt allein die medizinischen Entscheidungen und handelt im sog. „wohlverstandenen Interesse des Patienten“. Das heißt, es liegt am Arzt zu entscheiden, was das Interesse des Patienten ist. Der Patient ist passiver Empfänger ärztlicher Informationen und Empfehlungen, während der Arzt die Kontrolle über die Interaktion und die Entscheidung besitzt.

 

Im partnerschaftlichen Modell, auch partizipative Entscheidungsfindung oder shared decision making genannt, entscheiden Arzt und Patient gemeinsam. Der Informationsaustausch ist wechselseitig, d.h. der Arzt informiert den Patienten über Behandlungsmöglichkeiten, deren Nutzen und Risiken, während der Patient den Arzt z.B. über persönliche Präferenzen, Erwartungen und Erfahrungen informiert. Auf dieser Basis wird eine Entscheidung getroffen, die von beiden getragen und aktiv umgesetzt wird.

Das Informationsmodell (auch eng. informed decision making oder Konsumentenmodell genannt) geht davon aus, dass der Arzt dem Patienten die notwendigen Informationen zur Verfügung stellt, damit dieser eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen kann. Der Arzt führt die vom Patienten getroffene Entscheidung aus.

Die drei Modelle sind in Tabelle 1 zusammenfassend dargestellt.

Tabelle 1: Modelle medizinischer Entscheidungsfindung [4]

 

Paternalistisches Modell

Partizipative Entscheidungs-findung

Informations-modell

Informationsaustausch

Richtung

Vom Arzt zum Patienten

Vom Arzt zum Patienten und vom Patienten zum Arzt

Vom Arzt zum Patienten

Art der Information

Medizinisch

medizinisch und persönlich

Medizinisch

Ausmaß

Entsprechend der gesetzlichen Anforderungen

alles für die Entscheidung Relevante

alles für die Entscheidung Relevante

Wer wägt die unterschiedlichen Behandlungen gegeneinander ab?

Arzt alleine

Arzt und Patient

Patient alleine

Wer entscheidet, welche Behandlung durchgeführt wird?

Arzt

Arzt und Patient

Patient

 

Angesichts verbesserter Informationsmöglichkeiten und mehrerer, unterschiedlich wirksamer und riskanter Behandlungsoptionen – insbesondere bei chronischen Erkrankungen – erscheint eine paternalistische Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung nicht mehr zeitgemäß. Auch wenn das partnerschaftliche Modell häufig als das Ideal betrachtet wird, haben sich doch bestimmte patienten- und erkrankungsbezogene Merkmale als wichtig erwiesen, welche die Auswahl der geeigneten Vorgehensweise beeinflussen. Auf Patientenseite muss selbstverständlich die Bereitschaft gegeben sein, an medizinischen Entscheidungen mitzuwirken. Es ist bekannt, dass diese Bereitschaft mit sozialen Faktoren (z.B. Alter oder Bildung des Patienten) variiert: Patienten im höheren Lebensalter, mit niedrigem Bildungsniveau oder auch begrenzter Sprachkompetenz sind weniger an einer gemeinsamen Entscheidungsfindung interessiert. Insofern ist es wichtig, dass der Arzt die Befähigung und Bereitschaft des Patienten vorab erfragt. Im Hinblick auf erkrankungsbezogene Faktoren ist z.B. entscheidend, ob es sich um einen Notfall handelt, der schnelles Handeln erfordert, oder ob die Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit des Patienten eingeschränkt ist. In solchen Situationen ist eine partnerschaftliche Entscheidung nur begrenzt möglich. Als Hauptanwendungsgebiet von Shared-Decision-Making sind Therapieentscheidungen bei Erkrankungen zu nennen, bei denen es mehrere Behandlungsoptionen mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen gibt. Weitere Ausführungen zur partnerschaftlichen Entscheidungsfindung finden sich in Kapitel 4.3.4.

4.2.4. Aktuelle Entwicklungen in der Arzt-Patient-Beziehung

Die Arztrolle ist gekennzeichnet durch spezifische Erwartungen sowie durch die Merkmale einer Profession (s. Kapitel 3.3.2.). Letztere zeichnet sich aus durch eine weitgehende, eigene Kontrolle über Inhalt und Organisation der beruflichen Tätigkeit. Aktuelle Diskussionen legen allerdings nahe, dass die Arztrolle und damit auch die Arzt-Patient-Beziehung durch veränderte Rahmenbedingungen und Entwicklungen im Gesundheitswesen einem zunehmenden Wandel unterworfen sind.

Ein zunehmender Druck zur Effizienzsteigerung, immer neue Regelungen zur Ausgabenkontrolle und ein wachsender Wettbewerb werden unter dem Stichwort der Ökonomisierung des Gesundheitswesens zusammengefasst. Diese belastet die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient, da sie dazu führen kann, dass weniger die Fürsorge für den Patienten als ökonomische Motive im Vordergrund stehen. Dies wird durch den zunehmenden Trend zu sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) noch verstärkt. Hierunter werden ärztliche Leistungen verstanden, die von den gesetzlichen Krankenkassen nicht getragen werden, z.B. weil keine ausreichenden Belege für ihren Nutzen vorliegen (https://www.igel-monitor.de/). Individuelle Gesundheitsleistungen können Patienten von Ärzten im Rahmen einer Privatbehandlung gegen Selbstzahlung angeboten werden. Hier wird die Ökonomisierung der Arzt-Patient-Beziehung besonders deutlich. Diese wird noch dadurch gesteigert, dass in der Medizin verstärkt Leistungen angeboten und auch nachgefragt werden, die über die Kernaufgaben des Arztberufs hinausgehen (z.B. sogenannte Lifestyle-, Wellness- oder Anti-Aging-Medizin).

Ein weiterer wichtiger Trend im Gesundheitswesen ist der zunehmende Druck zur Qualitätssicherung. Patienten sollen in Krankenhäusern, Arzt- und Zahnarztpraxen qualitativ hochwertig und auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse versorgt werden (vgl. evidenzbasierte Medizin, Kapitel 3.4.3.1.). Für die Arzt-Patient-Beziehung bedeutet dies, dass wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirksamkeit von medizinischen Verfahren verstärkt in Entscheidungsprozesse eingehen und die Patienten verständlich über Nutzen und Risiken von präventiven, diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen aufgeklärt werden müssen.

Die demografische Alterung, d.h. der zunehmende Anteil alter Menschen in der Bevölkerung, hat zu einem Wandel des Krankheitsgeschehens geführt. Diese epidemiologische Transition (Wandel der Morbiditätsstruktur) ist gekennzeichnet durch einen Rückgang von Infektionskrankheiten und eine Zunahme von chronischen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf- oder Krebserkrankungen. Zu den besonderen Merkmalen solcher chronischen Erkrankungen zählen, dass sie fortschreitend (progredient) sind, eine lange vorsymptomatische Phase haben, weitgehend behandlungsresistent sind und ihre Entstehung wie auch ihr Verlauf durch verhaltensbezogene, biomedizinische sowie psychosoziale Risikofaktoren beeinflusst wird. Darüber hinaus existieren für chronische Erkrankungen häufig unterschiedliche Behandlungsoptionen, so dass es umso gebotener erscheint, den Patienten in Behandlungsentscheidungen einzubeziehen. Chronisch erkrankte Patienten brauchen im Allgemeinen eine längerfristige Betreuung und haben aufgrund des häufig unsicheren Verlaufs sowie den mit der Erkrankung einhergehenden Einschränkungen ein starkes Informationsbedürfnis. Dies hat Konsequenzen für die Arzt-Patient-Beziehung, auch weil es notwendig ist, Informationen zum Umgang mit der Erkrankung zu vermitteln und den Patienten beim Leben mit der Erkrankung zu unterstützen. Ziel einer erfolgreichen Arzt-Patient-Beziehung ist somit weniger die Heilung der Krankheit als z.B. die Aufrechterhaltung oder Förderung der Lebensqualität. Damit rücken sogenannte Patient-Reported Outcomes wie Lebensqualität oder auch Patientenzufriedenheit verstärkt als Zielkriterien in den Fokus. Das bedeutet, dass subjektive Einschätzungen der Patienten zur Beurteilung der Qualität der medizinischen Versorgung im Allgemeinen, aber auch der Arzt-Patient-Beziehung im Besonderen wesentlich sind.

Auch der Trend zu verstärkter Migration und die damit einhergehende zunehmende Zahl von Patienten aus unterschiedlichen Kulturen haben zu neuen Herausforderungen in der Arzt-Patient-Beziehung beigetragen. So ist das Rollenverständnis bei manchen Patienten aufgrund ihrer Herkunft und Sozialisation vielleicht besonders paternalistisch geprägt und die Patienten verhalten sich in der Beziehung zum Arzt eher passiv. In solchen Fällen erfahren Ärzte wichtige Informationen zu gesundheitlichen Beschwerden erst dann, wenn sie den Patienten ausdrücklich danach fragen. Um sich auf Patienten mit Migrationshintergrund einzustellen, ist es hilfreich, sich der Unterschiedlichkeit bewusst zu sein, eigene kulturelle Vorstellungen zu reflektieren und religiös bedingte Einstellungen und Entscheidungen der Patienten zu kennen und zu respektieren [5]. Den bei einigen Patienten vorherrschenden Sprachschwierigkeiten wird inzwischen zunehmend mit Dolmetscherdiensten begegnet (s. Kapitel 4.1.).

Durch das Internet haben Patienten deutlich erweiterte Möglichkeiten, Informationen zu ihren Symptomen, ihrer Erkrankung und zu Therapieoptionen zu bekommen. Häufig kommen Patienten durch solche Quellen informiert zum Arzt. Dadurch verringert sich der im Zusammenhang mit der Asymmetrie angesprochene Informationsvorsprung des Arztes. Dieser steht dann vor der Herausforderung, darauf einzugehen und die beim Patienten hervorgerufenen Erwartungen zu berücksichtigen. Ein Problem stellt die Fülle und die nicht immer sichergestellte Qualität der Internet-Informationen dar. Eine ärztliche Aufgabe liegt vor diesem Hintergrund in der Unterstützung bei der Auswahl, Interpretation und Bewertung von Gesundheitsinformationen.

Zusammengefasst gilt es bei der Gestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung, den Informationsbedürfnissen der Patienten gerecht zu werden, die Asymmetrie so weit wie möglich zu reduzieren, die Grundhaltungen einer patientenzentrierten Kommunikation einzunehmen und Patienten, wenn möglich und gewünscht, in medizinische Entscheidungen einzubeziehen.


References

[1] Lown B. Die verlorene Kunst des Heilens: Anleitung zum Umdenken. Berlin: Suhrkamp; 2004.
[2] Siegrist J. Soziologie der Arzt-Patienten-Beziehung. In: Siegrist J, editor. Medizinische Soziologie. 6th ed. Munich: Urban und Fischer Verlag/Elsevier; 2005. p. 250-71.
[3] Bernstein B. Studien zur sprachlichen Sozialisation. Düsseldorf: Schwann; 1972.
[4] Charles C, Gafni A, Whelan T. Decision-making in the physician-patient encounter: revisiting the shared treatment decision-making model. Soc Sci Med. 1999 Sep;49(5):651-61. DOI: 10.1016/S0277-9536(99)00145-8
[5] Grosse S. Patienten mit Migrationshintergrund: Vielfalt in der Praxis. Dtsch Ärzteblatt. 2017;114:A2298-9.