Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.4.2. Adoleszenz

 Gudrun Quenzel 1


1 Institut für Bildungssoziologie, Pädagogische Hochschule Vorarlberg, Feldkirch, Österreich

Die Lebensphase vom 12. bis zum 18. Lebensjahr gilt als gesundheitlich vulnerable Phase. Obwohl schwere somatische Krankheiten in der Adoleszenz vergleichsweise selten auftreten, sind körperliche Beschwerden und psychosomatische Belastungen verbreitet. Etwa sinkt im Übergang von der Kindheit in die Jugendphase der Anteil derjenigen deutlich, die ihren Gesundheitszustand als ‚ausgezeichnet‘ einstufen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass körperliche Beschwerden in Form von Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Bauchweh zunehmen. Auch psychische Auffälligkeiten sind verbreitet, wie die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) zeigen. Zudem ändert sich das Gesundheitsverhalten in dieser Altersphase gravierend.

Die Zunahme an gesundheitlichen Einschränkungen und die Veränderungen im Gesundheitsverhalten hängen eng mit den spezifischen Herausforderungen dieser Lebensphase zusammen [1].

Für Ärztinnen und Ärzte sind ebenso wie für alle anderen Gesundheitsprofessionen umfassende Kenntnisse über die Herausforderungen dieser Altersphase wichtig, da sie

  • die Bewältigung akuter und chronischer Krankheiten, die Compliance und die Inanspruchnahme medizinischer Vorsorgeangebote beeinflussen;
  • erhebliche psychische Belastungen darstellen, die Beschwerden und Krankheiten auslösen oder verstärken können;
  • Auswirkungen auf gesundheitsrelevante Verhaltensweisen haben, insbesondere auf den Substanzkonsum, das Bewegungs- und Ernährungsverhalten sowie auf das akute Risikoverhalten.

2.4.2.1. Entwicklungsaufgaben und Gesundheit

Um die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und das Gesundheitsverhalten in dieser Lebensphase zu verstehen, ist es zentral, die besonderen körperlichen, sozialen, psychischen, emotionalen und kognitiven Herausforderungen zu berücksichtigen, mit denen Jugendliche zu dieser Zeit konfrontiert sind. Die altersspezifischen Herausforderungen können zu den vier Entwicklungsaufgaben Aufbau sozialer Bindungen, Qualifizieren, Regenerieren und Partizipieren und einer quer liegenden Dimension Akzeptieren körperlicher Veränderungen gebündelt werden [2].

  • Zur Herausforderung, die körperlichen Veränderungen zu akzeptieren, gehört die produktive Auseinandersetzung mit der körperlichen Entwicklung sowie – eng damit verbunden – die Erarbeitung neuer Geschlechterrollen und die Umstrukturierung der geschlechtlichen Identität.
  • Der Bereich Aufbau sozialer Bindungen umfasst, Freundschafts- und Partnerschaftsbeziehungen mit Gleichaltrigen aufzubauen und sich auf diese Weise nach und nach von den die Kindheit prägenden Bindungen zu den Eltern und anderen Erwachsenen zu lösen.
  • Die Entwicklungsaufgabe Qualifizieren beinhaltet, eine schulische und berufliche Qualifikation zu erwerben und den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erreichen, um finanziell unabhängig von anderen zu werden.
  • Zur Entwicklungsaufgabe Regenerieren gehört die Erarbeitung von Strategien zur Entspannung und Regeneration und damit eng verbunden zum finanziell und emotional souveränen Umgang mit den vielfältigen Freizeit- und Konsumangeboten.
     
  • Die Entwicklungsaufgabe Partizipieren umfasst, eine eigene Werteorientierung zu entwickeln und auf diese aufbauend an relevanten Entscheidungen im sozialen Nahbereich, in der Zivilgesellschaft und in politischen Institutionen mitzuwirken.

Altersspezifische Entwicklungsaufgaben sind dabei Herausforderungen, deren erfolgreiche Bewältigung nicht über die schlichte Erfüllung von sozialen Erwartungen erfolgt, sondern die eine aktive und produktive Auseinandersetzung über mehrere Jahre erfordern.

Die Jugendlichen müssen sich das für die Bewältigung notwendige Wissen erarbeiten, sie müssen Ressourcen generieren und mobilisieren, sie müssen lernen, die Bewältigung verschiedener und manchmal widersprüchlicher Entwicklungsaufgaben zeitlich und inhaltlich zu vereinbaren, sie müssen mit Überforderungen umgehen und Konflikte zwischen den Erwartungen ihres Umfeldes und ihren persönlichen Bedürfnissen, Einstellungen und Interessen produktiv lösen.

Körperliche Veränderungen akzeptieren

Nach dem verhältnismäßig kontinuierlichen körperlichen Wachstum in der Kindheit kommt es in der Adoleszenz zu umfassenden körperlichen Veränderungen. Die Hormonproduktion nimmt zu, es kommt zu einem intensiven Körperwachstum, das Verhältnis von Muskeln und Körperfetten ändert sich, die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale bilden sich heraus und die sexuelle Reproduktionsreife wird erreicht [3]. Als wichtiges Merkmal der Pubertät gilt dabei, dass sie zu einer Reihe von körperlichen Veränderungen führt und viele der körperlichen Merkmale erst hervorbringt, anhand derer in unserer Gesellschaft Frauen von Männern unterschieden werden.

Wachstumsschub und Geschlechtsreife

Bei jungen Frauen setzt im Schnitt um das 12. Lebensjahr ein Wachstumsschub ein, der etwa 2,5 Jahre andauert und in dessen Verlauf sich auch die Knochenformen verändern. Das größte Wachstum erfolgt dabei ein Jahr vor und nach dem Beginn der ersten Periode; es beginnt bei den Beinen und Schultern, erst später in der Pubertät weiten sich auch die Hüften. Mit der Pubertät wird zudem die geschlechtliche Reproduktionsreife eingeleitet, die bei Mädchen durchschnittlich zwei Jahre früher als bei Jungen beginnt. Die Eierstöcke wachsen und steigern die Produktion der weiblichen Sexualhormone, Uterus und Vagina vergrößern sich. Die Klitoris, in der zahlreiche Nerven enden, wird verstärkt von Blutgefäßen durchzogen und wird zur Quelle sexueller Stimulation.

Das durchschnittliche Alter der Menarche liegt in Deutschland aktuell bei 12,8 Jahren, auf der Einzelfallebene variiert das Alter der ersten Menstruation um bis zu sechs Jahre. Schichtzugehörigkeit und Migrationshintergrund haben dabei einen signifikanten Einfluss auf den Zeitpunkt der Menarche. Mädchen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind im Durchschnitt bei Beginn der Menstruation fast ein halbes Jahr jünger als Mädchen ohne Migrationshintergrund, auch Mädchen aus Familien mit niedrigerem Sozialstatus sind im statistischen Mittel jünger.

Bei den jungen Männern setzt der pubertäre Wachstumsschub im Schnitt mit etwa 10 Jahren ein und setzt sich bis zum Alter von 16 Jahren fort. Der Wachstumsschub der jungen Männer erstreckt sich damit über einen längeren Zeitraum als bei den jungen Frauen. Bei den jungen Männern beginnen sich die Hoden etwa ab dem Alter von 11 Jahren zu entwickeln, der Penis verdoppelt während der Pubertät sowohl Umfang als auch Länge. Der erste Samenerguss, die Spermarche, erfolgt bei der Mehrheit der jungen Männer mit 13 Jahren.

Entwicklung einer neuen Geschlechtsidentität

Blos hebt in seiner Entwicklungstheorie der Adoleszenz die tiefgreifenden psychologischen Anpassungen an die körperlichen Manifestationen der sexuellen Reifung hervor, denn diese führen nach seinen Beobachtungen zu einem Wechsel in der eigenen Körpervorstellung und einer Neu-Einschätzung des Selbst im Lichte der neuen körperlichen Kräfte und Empfindungen. Die körperlichen Veränderungen gehen aber auch mit einer veränderten Struktur des Begehrens und des Begehrt-Werden-Wollens einher und führen nicht zuletzt dadurch auch zu einer veränderten und intensiveren Wahrnehmung der Körper der Peers [4]. Das bedeutet, dass der eigene Körper auch von den anderen verstärkt wahrgenommen wird und dass das eigene Körperbewusstsein von den Blicken der – imaginierten oder realen – anderen geprägt wird.

Die körperlichen Veränderungen sind kulturell kodiert als Entwicklung hin zur erwachsenen Frau und zum erwachsenen Mann und erfordern deswegen eine Auseinandersetzung mit den kulturellen Vorstellungen und Bedeutungen von Frausein und Mannsein sowie die Erarbeitung einer geschlechtlichen Identität vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen.

Beispielsweise müssen Jugendliche sich mit einem größeren und anders proportionierten Körper wieder vertraut machen und diesen in ihre Ich-Identität integrieren; sie müssen eventuell damit umgehen, dass sich ihr Körper im Vergleich zu den Gleichaltrigen schneller oder langsamer, „schöner“ oder „hässlicher“ oder eben einfach anders entwickelt. Sie müssen sich mit den Veränderungen der primären Geschlechtsorgane sowie der Entwicklung der sexuellen Reproduktionsreife auseinandersetzen und im Zusammenhang mit den veränderten Begehrensstrukturen eine neue geschlechtliche Identität aufbauen.

Akzeptanz der körperlichen Veränderungen

Als ein Indikator, ob es Jugendlichen gelingt, den sich verändernden Körper zu akzeptieren und sich in ihm wohlzufühlen, kann die Zufriedenheit mit dem Körpergewicht herangezogen werden. Insbesondere bei den jungen Frauen sinkt das körperliche Wohlbefinden im Alter von 11 bis 15 Jahren deutlich (siehe Abbildung 1) [5].

Abbildung 1: Körperempfinden als ein wenig oder viel zu dick nach Alter und Geschlecht (Angaben in Prozent) (Bildquelle: HBSC-Studienverbund Deutschland [5])

Die möglichen Gründe für die sinkende Zufriedenheit mit dem Körper, die bei jungen Frauen besonders ausgeprägt sind, sind vielfältig:

  • die körperlichen Veränderungen führen von dem gesellschaftlichen Schönheitsideal mit sehr langen Beinen, weiten Schultern und schmalen Hüften weg, das in vielen Punkten dem Wachstumsstadium der frühen Pubertät entspricht;
  • junge Frauen sind häufiger und stärkeren sexualisierten Hänseleien ausgesetzt als junge Männer, was Folgen für die Akzeptanz des eigenen Körpers, das Selbstwertgefühl, die psychische Gesundheit und die Akzeptanz durch die Peergroup haben kann;
  • die Mehrheit der jungen Frauen hat das Gefühl, der eigene Körper werde von anderen betrachtet und beurteilt. Hierdurch steigen die Körperscham und das Gefühl, den Standards nicht zu genügen;
  • die sinkende körperliche und sportliche Aktivität von jungen Frauen in der Pubertät scheint ebenfalls mit der Zunahme von Kommentaren zu ihrer Größe, ihrem Gewicht und eventuellen Koordinierungsproblemen zusammenzuhängen;
  • homosexualitätsabwertende, insbesondere schwulenfeindliche, Beschimpfungen gehören ebenfalls zur alltäglichen Aushandlung von Geschlechtsidentität im schulischen und außerschulischen Setting und erhöhen bei jungen Männern das körperliche Unwohlsein.
Eine Strategie, mit den körperlichen Veränderungen umzugehen und die psychischen Anpassungsleistungen an diese zu erbringen, ist die gezielte Herbeiführung von Körpererfahrungen, beispielsweise durch intensive sportliche Betätigung, sportliche Exzesse, Alkohol- und Drogenkonsum, Selbstverletzungen oder Askese.

Körpererfahrungen und Körperaneignungen

Ein besonders häufig praktiziertes Experimentieren mit Körpererfahrungen stellt dabei die – in der Regel in Gruppen ausgeübte – Herbeiführung von Rauschzuständen durch Alkohol dar. Diese Rauschzustände zeichnen sich durch ein Nachlassen der Emotionskontrolle, der Orientierung an Konventionen und der rational-analytischen Fähigkeiten aus, während gleichzeitig intuitive Denkmuster an Bedeutung gewinnen. Dadurch wird der Körper ein Stück weit aus der Kontrolle des Verstandes „entlassen“ und es werden leiblich-körperliche Grenzerfahrungen möglich.

Im Laufe der Adoleszenz ändert sich das Verhältnis der Jugendlichen zu ihren Eltern und der Gleichaltrigengruppe gravierend. Zunächst gewinnen die gleichaltrigen Peers, später die Beziehungspartner an Bedeutung, während die emotionale Bindung an die Eltern autonomer wird. Nicht nur die Menge, sondern auch die Qualität der Freundschaften wandelt sich und Intimität in Form von gegenseitigem Vertrauen, Loyalität, Exklusivität und gegenseitiger Unterstützung bei Problemen gewinnt an Bedeutung [6].

Aufbau sozialer Bindungen

Freundschaften

Vorhandene Freundschaften im Jugendalter wirken sich dabei tendenziell positiv auf das psychische und soziale Wohlbefinden aus, während fehlende oder unbefriedigende Freundschaften den psychosozialen Stress erhöhen und das psychische und soziale Wohlbefinden mindern. Mehrere Studien fanden in diesem Zusammenhang Belege dafür, dass Jugendliche mit sicheren und beständigen Freundschaftsbeziehungen seltener Symptome von Depressivität aufweisen und ein höheres Wohlbefinden haben als Jugendliche mit ambivalenten oder unsicheren Beziehungen innerhalb der Freundesgruppe. Demgegenüber sind bei Jugendlichen, die keine oder unsichere Freundschaften geschlossen haben, häufiger depressive Symptome, negative Einstellungen gegenüber der Schule, ein niedriges Selbstwertgefühl und eine geringe Selbstkompetenz zu beobachten.

Intensive Zeit körperlicher Annäherung

Für die große Mehrheit der Jugendlichen ist der Zeitraum vom 14. bis zum 17. Lebensjahr eine Zeit der intensiven körperlichen Annäherung an das andere Geschlecht – vom ersten Kuss bis zum ersten Geschlechtsverkehr [7]. So hatte von den befragten 14-Jährigen mit 46 Prozent nahezu die Hälfte noch keinerlei körperliche Kontakte zum anderen Geschlecht, unter den 17-Jährigen sind es nur noch 5 Prozent. Geschlechtsverkehr hatten von den 14-Jährigen etwa 6 Prozent, bei den 17-Jährigen sind es dann mit 58 Prozent mehr als die Hälfte (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Anteil der 14- bis 25-Jährigen, die bereits einmal Geschlechtsverkehr hatten, nach Alter (Angaben in Prozent) (Bildquelle: Bode und Heßling, S. 107 [7])

Verhütung

Etwa jeder zwölfte Jugendliche wendet beim ersten Geschlechtsverkehr keine oder unzuverlässige Verhütungsmethoden an. Es wird umso seltener verhütet, je jünger die Jugendlichen sind, je niedriger ihr Bildungsstand ist und je weniger gut sie ihren Partner oder ihre Partnerin kennen. Mit zunehmender sexueller Erfahrung steigt der Anteil derjenigen, die verhüten, an, aber es bleibt ein Anteil von ca. 4 Prozent, der nicht verhütet. Auch hat etwa jeder dritte Jugendliche mindestens schon einmal unsichere Verhütungsmethoden wie den Coitus interruptus praktiziert.

Neben der Gefahr, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten zu infizieren, besteht bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr das erhebliche Risiko einer ungewollten Schwangerschaft. Vor dem Hintergrund, dass nahezu jede Schwangerschaft bei unter 18-jährigen Jugendlichen ungewollt ist, viele dieser Schwangerschaften mit einem Schwangerschaftsabbruch beendet werden und sowohl ein Schwangerschaftsabbruch als auch die Übernahme von Erziehungsverantwortung in diesem Alter mit großen psychischen Belastungen einhergehen, bergen sexuelle Aktivitäten im Jugendalter ohne die Anwendung sicherer Verhütungsmethoden ein erhebliches Risiko für das körperliche und psychische Wohlbefinden.
Schulische Misserfolge, Stress oder das Gefühl der Überforderung wirken sich häufig unmittelbar auf die Gesundheit aus. Junge Frauen reagieren dabei auf hohe Belastungen häufiger mit psychosomatischen Beschwerden, während junge Männer häufiger zu externalisierenden Reaktionsformen neigen [8].

Qualifizieren

Internalisierende und externalisierende Reaktionsformen

Typische Symptome psychosomatischer Reaktionsformen sind Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen und Schlafstörungen. Anhaltende schulische Misserfolgserlebnisse und dauerhafte Überlastung können zu einer Minderung des Kompetenzgefühls, der Lebensfreude und des Zukunftsoptimismus sowie zur Verfestigung einer Persönlichkeitsstruktur mit wenig Selbstwirksamkeitserwartung führen und im Extremfall zum Auslöser von psychischen Krankheiten werden. Auch externalisierende Reaktionsformen können beobachtet werden. Schulische Misserfolge gehen nicht selten mit gesundheitlichem Risikoverhalten wie einem erhöhten Alkohol- und Zigarettenkonsum, dem Gebrauch von illegalen Drogen oder mit delinquenten Verhaltensweisen wie physischer Gewaltanwendung oder Diebstahl einher.

Ungleiche Ressourcen

Negative Folgen für die Gesundheit lassen sich vor allem dann beobachten, wenn den Schülerinnen und Schülern die Ressourcen für eine produktive Bearbeitung der schulischen Anforderungen fehlen und sich bei ihnen ein Gefühl der Überforderung einstellt. Dieses Gefühl der Überforderung kann durch schlechte Schulleistungen, aber auch durch hohe Erwartungen von den Eltern oder durch einen geringen Glauben an die eigene Kompetenz ausgelöst werden.

Probleme im Umgang mit den schulischen Anforderungen treten zudem dann verstärkt auf, wenn Schülerinnen und Schüler aufgrund der aus ihrer Sicht geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt wenig Sinn in ihrem schulischen Engagement sehen. Dieses eingeschränkte schulische Kohärenzgefühl kann insbesondere bei männlichen Hauptschülern beobachtet werden, die nahezu ausschließlich aus bildungsfernen Schichten kommen.

Mobbing

Zwischen negativem Erleben von Schule und Mobbing besteht ebenfalls ein deutlicher Zusammenhang. Je mehr eine Schülerin oder ein Schüler ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit zur Schule entwickelt, je weniger sie oder er sich in der Schule wohlfühlt, desto höher sind die Chancen, Täter oder Opfer von Mobbing zu werden. Für die Täter ist Mobbing eine Strategie, fehlende soziale Anerkennung zu kompensieren, da physische Gewaltanwendungen positive Effekte für das Selbstkonzept von Jugendlichen mit anfänglich geringem Selbstkonzept haben. Für die Opfer bedeutet Mobbing demgegenüber, über einen längeren Zeitraum der vorsätzlichen Abwertung durch Personen oder Gruppen ausgesetzt zu sein, sei es durch verbale Drohungen, Beleidigungen oder Hänseleien, sei es durch physische Übergriffe wie Schläge, durch Diebstahl oder durch die Exklusion aus der Peergroup.

Typisch für die Freizeitaktivitäten und Entspannungsstrategien in der Adoleszenz sind gegenüber dem Kindheitsalter neu hinzukommende gesundheitsrelevante Verhaltensmuster wie Tabak rauchen, Alkohol trinken, Marihuana oder andere illegale Drogen konsumieren, während Verhaltensweisen wie körperliche Bewegung und regelmäßiges Essen zurückgehen [9].

Regenerieren

Steigender Substanz- und Medienkonsum

Beispielsweise ist regelmäßiger Alkoholkonsum bei den 11- und 12-Jährigen noch die Ausnahme und nimmt dann ab dem Alter von 13 Jahren stetig zu. Bei etwa einem Viertel der 14- bis 17-Jährigen kann der Alkoholkonsum dabei als gesundheitlich riskant eingestuft werden. Als besonders problematisch gilt regelmäßiges Rauschtrinken, also wenn mindestens einmal im Monat sechs oder mehr alkoholische Getränke bei einer Gelegenheit konsumiert werden. In Abbildung 3 ist der Anteil der Jugendlichen dargestellt, die schon mehrmals in ihrem Leben betrunken waren.

Abbildung 3: Geschlechts- und altersspezifischer Anteil (in Prozent) der Mädchen und Jungen, die jemals bei zwei oder mehr Gelegenheiten betrunken waren (Lebenszeitprävalenz) (Bildquelle: HBSC-Studienverbund Deutschland [10])

Der Konsum von Tabak nimmt ebenfalls im Übergang von der Kindheit ins Jugendalter zu, ist jedoch insgesamt in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Aktuell liegt der Anteil der täglichen Raucherinnen und Raucher in der Gruppe der 14- bis 17-Jährigen bei etwa 9 Prozent. Ein steigendes Interesse am Substanzkonsum im Übergang von der Kindheit ins Jugendalter spiegelt sich auch in den Daten zum Haschisch- und Marihuanakonsum wider. Unter den 15-Jährigen sind es etwa 10 Prozent der männlichen und 7 Prozent der weiblichen Jugendlichen, die in den letzten 30 Tagen zumindest einmal Cannabis, Haschisch oder Marihuana konsumiert haben.

Problematisch ist mitunter auch der unter einem Teil der Jugendlichen verbreitete extensive Konsum von elektronischen Unterhaltungsmedien. Dieser kann zu Schlafdefiziten, Müdigkeit, erhöhten körperlichen Beschwerden, einem sinkenden subjektiven Gesundheitsempfinden und gegebenenfalls zu Bewegungsmangel und Übergewicht führen. Diese Folgen sind insbesondere dann zu beobachten, wenn Computerspiele als Freundesersatz dienen.

Funktionen des Risikoverhaltens

Verhaltensweisen, die negative gesundheitliche Folgen für das Individuum oder seine soziale Umwelt haben können, werden unter dem Begriff des Risikoverhaltens gefasst, wobei zwischen Risikoverhalten mit langfristiger und mit akuter Schädigungsgefahr unterschieden werden kann. Zu Verhaltensweisen mit langfristiger Schädigungsgefahr gehören der Konsum von Tabak, Alkohol, Marihuana und Medikamenten, einseitige Ernährung und extensiver Medienkonsum. Zu den Verhaltensweisen mit akuter Schädigungsgefahr gehören S-/U-Bahn-Surfen, riskante Mutproben, zu schnelles Fahren (unter Alkoholeinfluss) oder Fahren ohne Sicherheitsgurt sowie ungeschützter Geschlechtsverkehr. Bei Verhaltensweisen wie Rauschtrinken oder dem Konsum von harten Drogen überschneiden sich beide Bereiche.

Ein mittlerweile fest etablierter Erklärungsansatz geht davon aus, dass der Einsatz von Hilfsmitteln zur Entspannung funktional für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben ist.

  • Der Konsum von Alkohol lässt sich beispielsweise gleich für die Bewältigung mehrerer Entwicklungsaufgaben nutzen: Durch das Rauscherlebnis können Jugendliche mit Körpererfahrungen experimentieren, sie können sich von den Eltern abgrenzen, Autonomie demonstrieren und Hemmschwellen gegenüber den Peers abbauen.
  • Gesundheitsförderliche und -gefährdende Verhaltensweisen eignen sich zur interaktiven Aushandlung und Aneignung von Geschlechterrollen. Häufigkeit und auch die Art des Risikoverhaltens variieren stark nach Geschlecht, und zwar umso stärker, je mehr das Risikoverhalten geschlechtlich konnotiert ist.
  • Explizit risikokonnotierte Aktivitäten scheinen sich insbesondere zur Herstellung einer „harten“ Form von Männlichkeit zu eignen; Feminität wird umgekehrt auf der Verhaltensebene nicht selten über die Ablehnung von gesundheitsbelastendem und delinquentem Verhalten, aber auch durch eine eher asketische Esskultur hergestellt.

Partizipieren

In den letzten Jahren wird Partizipation international zunehmend als Voraussetzung für gesundes Aufwachsen und als grundlegende Determinante für die Lebensqualität diskutiert. Partizipation ist vor allem aus zwei Gründen wichtig: Zum einen ermöglicht sie individuelle und soziale Lernprozesse, die das Gefühl der eigenen sozialen Bedeutsamkeit und der Selbstwirksamkeit erhöhen. Zum anderen unterstützt die Teilhabe eines möglichst weiten Kreises von Betroffenen an Entscheidungen eine gerechtere und bessere Gestaltung der sozialen Verhältnisse [11].

Selbstwirksamkeit und Teilhabe

Der Zusammenhang von Partizipation und psychischem Wohlbefinden wird auf konzeptioneller Ebene über die Annahme hergestellt, dass Partizipation die Selbstwirksamkeitserwartung, das Kohärenzgefühl und das Gefühl der Selbstbestimmung erhöht. Plausibilität hat diese Annahme, wenn man bedenkt, dass eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung, ein starkes Kohärenzgefühl und das Gefühl der Selbstbestimmung das psychische Wohlbefinden und die gesundheitliche Lebensqualität insgesamt erhöhen und depressiven Symptomen entgegenwirken können. Auch das soziale Wohlbefinden kann sich durch Partizipation erhöhen, denn die Beteiligung eines Individuums an einer kollektiven Handlung kann zu einer Erhöhung der Qualität der sozialen Beziehungen, der sozialen Integration und der emotionalen Bindung an das betreffende Setting führen.

Fazit

Für ein Verständnis des Gesundheitszustandes, der Krankheitsbewältigung und des Gesundheitsverhaltens von Jugendlichen ist die systematische Berücksichtigung von möglicherweise auftretenden Bewältigungsproblemen gegenüber altersspezifischen Herausforderungen zentral. Die Adoleszenz ist eine Phase, die stark von körperlichen Veränderungen und den psychischen Anpassungsleistungen an diese geprägt ist und in der sich eine sukzessive emotionale Ablösung der Jugendlichen von den Eltern und eine verstärkte Hinwendung zur Gleichaltrigengruppe vollziehen. Es ist aber auch eine Zeit, in der Jugendliche stark gefordert sind, schulische und berufliche Qualifikationen zu erwerben, um später den Einstieg in den Arbeitsmarkt erfolgreich meistern zu können. Darüber hinaus erarbeiten sich Jugendliche in dieser Phase individuelle Strategien zur Entspannung und Regeneration und erwerben Kompetenzen im Umgang mit den vielfältigen Freizeit- und Konsumangeboten. Sie stehen zudem in den liberalen Gesellschaften vor der Herausforderung, eine eigene Werteorientierung zu entwickeln und an relevanten Entscheidungen im sozialen Nahbereich, in der Zivilgesellschaft und in politischen Institutionen mitzuwirken. Die Bewältigung dieser vielfältigen und komplexen Entwicklungsaufgaben hängt dabei eng mit der Gesundheit und dem Gesundheitsverhalten zusammen.

Aufgrund dieser dichten Staffelung von Entwicklungsaufgaben handelt es sich bei der Lebensphase Jugend um eine gesundheitlich vulnerable Phase, denn Bewältigungsprobleme bei den Entwicklungsaufgaben stellen ein erhebliches gesundheitliches Risiko dar. Bewältigungsprobleme verstärken das gesundheitliche Risikoverhalten, sie verringern die Chancen, bei Krankheiten medizinische Hilfe zu suchen, und senken – auch wenn diese Hilfe in Anspruch genommen wird – die Compliance. Vielfach sind Jugendliche schlicht in anderen Lebensbereichen gefordert und akute oder chronische Krankheiten stellen häufig eine weitere Belastung dar, die möglichst „hintangestellt“ wird.

Dies gilt für akut oder chronisch kranke Jugendliche ebenso wie für gesunde. Eine möglichst effektive Gesundheitsförderung versucht, alle Jugendlichen bei der Bewältigung der altersspezifischen Entwicklungsaufgaben zu begleiten und zu unterstützen. Denn auch wenn die Bewältigung einigen Jugendlichen leichter zu fallen scheint als anderen, sind Entwicklungsaufgaben für alle Jugendlichen eine beträchtliche Herausforderung.

 
Entsprechend ist es nicht sinnvoll, bei Entwicklungsaufgaben von Bewältigungsproblemen zu sprechen, wenn es sich um für die Lebensphase typische Probleme handelt, wie etwa durch die körperlichen Veränderungen verunsichert zu sein, weibliche oder männliche Verhaltensweisen auszutesten oder phasenweise wenig Interesse an der Schule zu zeigen. Von Problemen bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben muss demgegenüber gesprochen werden, wenn ein relevantes Risiko besteht, dass dadurch langfristig negative Konsequenzen für den Jugendlichen selbst oder seine Mitmenschen entstehen.

Kennzeichen für Bewältigungsprobleme sind beispielsweise, wenn sich ein objektives Körperbewusstsein mit hoher Körperscham verfestigt, wenn Essstörungen auftreten; wenn Jugendliche über Jahre unbefriedigende oder keine Freundschaften schließen und die erlebte Zurückweisung Bestandteil des Selbstbildes wird; wenn es Jugendlichen auch in der späten Jugendphase nicht gelingt, vertrauensvolle Partnerschaften einzugehen, in denen sie soziale Unterstützung erfahren; wenn Jugendliche die Schule verweigern oder abbrechen und dadurch der erfolgreiche Einstieg ins Berufsleben gefährdet wird; wenn Jugendliche regelmäßig Substanzen mit hohem Suchtrisiko konsumieren oder wenn sie nicht an den sie betreffenden Entscheidungen partizipieren können und ihr Leben als fremdbestimmt wahrnehmen. Die Bewältigungsbedingungen der altersspezifischen Herausforderungen sind dabei vom sozioökonomischen Status geprägt und Probleme bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben treten gehäuft bei denjenigen Jugendlichen auf, die über geringe persönliche, familiäre und materielle Ressourcen verfügen. Erklärungen für schichtspezifisches Gesundheitsverhalten von Jugendlichen sind nicht zuletzt in den schichtspezifischen Risiken misslingender Bewältigungen von Entwicklungsaufgaben zu suchen.

Zudem stellt etwa die erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgabe Qualifizieren im Jugendalter eine wesentliche Voraussetzung für den Erwerb von Gesundheitswissen dar, die Entwicklungsaufgabe Aufbau sozialer Beziehungen bildet die Basis für die zur Krankheitsbewältigung wichtigen sozialen Netzwerke, die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe Regenerieren fördert den langfristig kompetenten Umgang mit der eigenen Gesundheit und die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe Partizipieren ist die Basis für die Herausbildung von Entscheidungsautonomie.


References

[1] Hurrelmann K, Richter M. Gesundheits-und Medizinsoziologie: Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. 8. Aufl. Weinheim et al.: Beltz Juventa; 2013.
[2] Quenzel G. Entwicklungsaufgaben und Gesundheit im Jugendalter. Weinheim et al.: Beltz Juventa; 2015.
[3] Stolzenberg H, Kahl H, Bergmann KE. Körpermaße bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) [Body measurements of children and adolescents in Germany. Results of the German Health Interview and Examination Survey for Children and Adolescents (KiGGS)]. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz. 2007 May-Jun;50(5-6):659-69. DOI: 10.1007/s00103-007-0227-5
[4] Blos P. Adoleszenz: Eine psychoanalytische Interpretation. 7. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta; 2015.
[5] HBSC-Studienverbund Deutschland. Faktenblatt zur Studie Health Behaviour in School-aged Children 2013/14. Körperbild und Diätverhalten von Kindern und Jugendlichen; c2015 [cited 2019 Aug 22]. Available from: http://www.gbe-bund.de/pdf/Faktenbl_koerperbild_diaetverhalten_2013_14.pdf
[6] Fend H. Entwicklungspsychologie des Jugendalters. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2005.
[7] Bode H, Heßling A. Jugendsexualität 2015: Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativen Wiederholungsbefragung. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung; 2015. Available from: https://www.forschung.sexualaufklaerung.de/fileadmin/fileadmin-forschung/pdf/Jugendendbericht%2001022016%20.pdf
[8] Hurrelmann K, Quenzel G. Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. 13. Aufl. Weinheim et al.: Beltz Juventa; 2016.
[9] Inchley J, Currie D, Young T, Samdal O, Torsheim T, Augustson L, Mathison F, Aleman-Diaz A, Molcho M, Weber M, Barnekow V, editors [Internet]. Growing up unequal. Gender and socioeconomic differences in young people's health and well-being. Health behaviour in school-aged children (HBSC) study: international report from the 2013/2014 survey. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe; 2016. Available from: http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0003/303438/HSBC-No.7-Growing-up-unequal-Full-Report.pdf?ua=1
[10] HBSC-Studienverbund Deutschland. Faktenblatt zur Studie Health Behaviour in School-aged Children 2013/14. Rauschtrinken (Binge Drinking) bei Kindern und Jugendlichen; c2015 [cited 2019 Aug 22]. Available from: http://www.gbe-bund.de/pdf/Faktenbl_binge_drinking_2013_14.pdf.
[11] Rosenbrock R, Hartung S, editors. Handbuch Partizipation und Gesundheit. Bern: Huber; 2012.