5.3.4. Gesprächspsychotherapie als Beispiel für eine Methode der Humanistischen Therapie
1 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Halle/S., Halle, Germany
Die Gesprächspsychotherapie gehört zu den Anwendungsdisziplinen der Humanistischen Psychologie. Techniken der Gesprächspsychotherapie werden heute im Rahmen verschiedenster Psychotherapien eingesetzt.
Gesprächspsychotherapeutische Techniken werden heute im Rahmen verschiedenster Psychotherapien eingesetzt. Sie sind mit ihren Grundannahmen schulenübergreifend dafür geeignet, dem Patienten – oder, wie im Rahmen der Gesprächspsychotherapie eher bezeichnet, dem Klienten – ein tieferes Verständnis seiner individuell einzigartigen Gefühle und Motive zu vermitteln, die seinem Verhalten und seinen Erfahrungen zugrunde liegen.
In diesem Zusammenhang spricht man von klientenzentrierter oder non-direktiver Gesprächsführung. Carl Rogers (1902–1987), auf den das Verfahren zurückgeht, lehnte es ab, Klienten direkte Ratschläge und Verhaltensempfehlungen zu geben. Sein Ansatz geht davon aus, dass die Erkundung ihrer Gedanken und Gefühle einer Person dabei hilft, das eigene Handeln zu verstehen und im ‚Hier und Jetzt‘ widerspruchsfreier zu gestalten. Er unterstreicht die Einzigartigkeit jedes einzelnen Individuums als zwangsläufiges Ergebnis seiner subjektiven Handlungsweise und postuliert als humanistischer Psychologe, dass der Mensch von Natur aus gut sei und eine Tendenz zur Selbstverwirklichung sowie zu Wachstum, Gesundheit und Anpassung habe.
Nach dem Störungsmodell der klientenzentrierten Therapie erlebt sich der Klient in schwierigen Lebenssituationen als inkongruent – ein Zustand, in dem sich Bedürfnisse nach Wertschätzung und Selbstverwirklichung mit Erfahrungen kontrastiert sehen, die diesen Motiven widersprechen. Stellen Sie sich einen jungen Menschen vor, der Ärztin oder Arzt werden möchte. Wertschätzung hat diese Person im Laufe ihres Lebens im Wesentlichen für gute akademische Leistungen erfahren. Ihr Ideal-Selbst, d.h. die Vorstellung, wie diese Person gern wäre bzw. was von ihrer Umwelt erwartet wird, wird in der Folge Annahmen enthalten, wie „Mir ist es wichtig, leistungsstark zu sein“. Während des Studiums wird die Person möglicherweise Erfahrungen machen, die dieser Vorstellung entgegenstehen. Eine misslungene Prüfung oder negatives Feedback formen sich zu einem ‚Real-Selbst‘, das eventuell den Gedanken beinhaltet: „Ich bin nicht leistungsstark genug“. Diese Diskrepanz zwischen Ich-Ideal und Real-Selbst resultiert in einem Spannungszustand, den Rogers als Inkongruenz bezeichnet.
Gesprächspsychotherapie oder klientenzentrierte psychotherapeutische Interventionen helfen dabei, geeignete Bedingungen herzustellen, unter denen sich der Klient selbst verwirklichen kann. Unter diesen Bedingungen können sich Betroffene re-orientieren und ihre Einstellungen neu organisieren, um eine weniger mühsame Anpassung und Befriedigung der Selbstverwirklichungstendenz auf sozial anerkannte Weise zu erreichen. Unsere Beispielperson wird hier also dabei unterstützt, beide Selbst-Anteile einander anzunähern und eine den bisherigen Erfahrungen und aktuellen Gegebenheiten angemessene und wertschätzende Einschätzung des eigenen Selbst zu entwickeln. „Ich bin leistungsfähig und kann Hindernisse überwinden, auch wenn es mir manchmal schwerer fällt“ wäre eine entsprechende Möglichkeit der Integration.
Übergeordnetes Therapieziel ist daher die Entwicklung einer ‚voll funktionsfähigen Persönlichkeit‘ (fully functioning person) [1], die über eine hohe Offenheit gegenüber Erfahrungen verfügt, eine große Übereinstimmung von Selbstbild und Erfahrung aufweist, dem eigenen Selbst Wertschätzung gegenüberbringt, unverzerrte Realitätswahrnehmungen und reife, befriedigende soziale Interaktionen hat. Gelingt dies, verfolgt der Klient sein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Selbstaktualisierung als „innewohnende Tendenz des Organismus, all seine Kapazitäten auf die Arten zu entwickeln, die dazu dienen, den Organismus aufrechtzuerhalten oder zu verbessern“ [2].
Wie in allen psychotherapeutischen Schulen ist als zentrales Wirkmoment zur Erreichung dieses Ziels die therapeutische Beziehung zu begreifen. Rogers formuliert diese aus und postuliert eine für den Therapeuten notwendige Grundhaltung. Basis dieser Grundhaltung sind Empathie, Wertschätzung und Kongruenz, die als gemeinsame Determinanten des therapeutischen Beziehungsangebotes wirken.
Als Empathie bzw. einfühlendes Verstehen wird die therapeutische Bemühung verstanden, das Erleben des Gegenübers so vollständig und genau nachzuvollziehen, als ob es das eigene wäre, ohne aber jemals diesen ‚Als-ob-Status‘ zu verlassen. Dabei versucht der Therapeut, das Bezugssystem des Klienten (seine Realität und Sichtweise der Welt) nachzuvollziehen und seine Gefühle und deren Bedeutungen sowie Bewertung des Geschehens zu verstehen. Er bemüht sich, den Schmerz oder die Freude des Klienten so zu erfühlen, wie dieser sie fühlt und deren Ursachen aus der Klientenperspektive heraus wahrzunehmen, ohne aber jemals die Erkenntnis zu verlieren, dass es nicht die Person des Therapeuten ist, die beispielsweise verletzt oder froh wäre. Er erfasst so vollständig wie möglich die geäußerten gefühlsmäßigen Erlebnisinhalte des Klienten und deren Bedeutungen. Darüber hinaus wird dem Therapeuten gewahr, was die Äußerungen oder das Verhalten für das Selbst des anderen bedeuten. Er versteht, wie dieser sich im Augenblick selbst sieht. Unter Einbezug nonverbaler (zugewandte Körperhaltung in Mimik und Gestik etc.) und verbaler (aktives Zuhören und Verbalisieren) Kommunikationsmittel gibt der Therapeut Rückmeldung des Verstandenen in konkreter und anschaulicher Form. Er teilt dem Klienten mit, was er von dessen innerer Welt verstanden hat.
Dieses Vorgehen stellt den Schlüssel zum Verständnis des Erlebens und Verarbeitens der Krankheit des Klienten dar. Sowohl der Therapeut versteht die Beweggründe des Klienten als auch dieser selbst, indem er eine vertiefte Einsicht in seine eigenen Gefühle, Gedanken und Handlungen erlangt. Er kommt in die Lage, neue Erfahrungen zu machen, sein Selbstbild zu aktualisieren, sich selbst gegenüber wertschätzend zu sein und reifere soziale Interaktionen zu entwickeln. Dabei ist die Empathie des Therapeuten nicht mit Mitgefühl, Sympathie, Gefühlsansteckung, Identifikation oder Betroffenheit zu verwechseln. Lediglich das Verstehen der handlungssteuernden Gefühle, Gedanken und Motive, nicht die Zustimmung, sind für den Therapeuten zielführend.
Die zweite Basisvariable der klientenzentrierten Gesprächsführung stellt die Wertschätzung dar. Sie spiegelt sich in einer grundlegend positiven, wertfreien Einstellung und emotionalen Wärme des Therapeuten dem Klienten gegenüber wider. Er akzeptiert die Art des Fühlens und Erlebens des Klienten, auch dann, wenn diese gegensätzlich zu seinen eigenen Werten ist. Der Klient soll sich – egal was er empfindet, was er äußert oder wie er handelt – vom Therapeuten uneingeschränkt akzeptiert fühlen. Der Therapeut nimmt Anteil, beachtet die Sicht des Klienten, geht unabhängig von einem bestimmten gewünschten Verhalten freundlich und nachsichtig mit diesem um.
Gelingt dies, wird neben einer Festigung des Vertrauens in die Therapie das Selbstvertrauen des Klienten gestärkt.
Die dritte Basis dieser therapeutischen Grundhaltung stellt schließlich die Kongruenz bzw. Echtheit des Therapeuten dar. Rogers erwartet, dass dieser eine integrierte Persönlichkeit sei und seine eigenen Gedanken, Gefühle sowie sein Handeln ohne Widersprüche erlebe. Inhalt des Mitgeteilten, Tonfall, Mimik, Gestik und Gefühle sollen übereinstimmen, der Therapeut soll sich seiner eigenen Person und seiner Gefühle bewusst sein.
Diese geforderte Haltung stellt für viele Therapeuten eine Schwierigkeit dar. In Gesprächssituationen, in denen der Therapeut die Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten erkennt, bedeutet Kongruenz auch, selbstwertschätzend mit dieser empfundenen Hilflosigkeit umzugehen, sie nicht hinter der Fassade permanenter therapeutischer Kompetenz zu verbergen und mit seinen eigenen Unsicherheiten echt und unverstellt umzugehen. Dabei muss nicht alles mitgeteilt werden, was den Therapeuten bewegt, das Mitgeteilte soll aber echt sein.
Empathie, bedingungslose Wertschätzung und Kongruenz sind nicht unabhängig voneinander zu verstehen, sondern können nur gemeinsam wirkungsvoll eingesetzt werden.
Neben dieser aktiven Beziehungsgestaltung postuliert Rogers drei Prozesskomponenten gesprächspsychotherapeutischer Interaktion:
- Klient und Therapeut stehen in psychologischem Kontakt – die persönliche Interaktion zwischen beiden wird als bedeutsam erlebt.
- Symptome, Störungen und Probleme des Klienten sind Resultat von Inkongruenz – der Klient erlebt Erfahrungen als mit seinem Selbstbild nicht übereinstimmend.
- Der Klient kann das Angebot des Therapeuten, sich ihm empathisch und wertschätzend zuzuwenden, zumindest ansatzweise annehmen.
Unser Studierender aus obigem Beispiel mag uns vielleicht davon erzählen, dass es ihn sehr belaste, durch eine Prüfung gefallen zu sein und nun nicht zu wissen, ob er einer Nachprüfung gewachsen sei. „Sie haben große Angst vor einer erneuten schlechten Bewertung?“ könnte nun eine als schwebende Frage formulierte empathische Entgegnung des Therapeuten (T) darstellen. Nehmen wir an, der Klient (K) bejaht und führt aus, dass er annehme, „alle anderen schaffen die Prüfungen doch auch!“
T: „Ich freue mich, dass Sie sich in der jetzigen Situation Hilfe holen. Ich kann mir vorstellen, dass das von Ihnen auch Mut erfordert.“
K: „Was, wenn ich es dieses Mal wieder nicht schaffe?“
T: „Dieser Gedanke macht Ihnen große Angst?!“
K: „Ja, natürlich! Wenn ich wieder durchfalle – ach, ich mag gar nicht daran denken!“
T: „Sie stellen sich vor, dass dann etwas Schlimmes passiert?“
K: „Naja. Das wäre schon sehr ungünstig! Ich habe eben Angst, dass meine Eltern dann von mir enttäuscht sind und ich mein Ziel, Medizin zu studieren, nicht weiterverfolgen kann!“
T: „Mmh. Sie sitzen so richtig in der Zwickmühle, oder? Wenn Sie zur Prüfung gehen, könnten Sie durchfallen und haben Angst, Ihre Eltern zu enttäuschen bzw. Ihren Traum aufgeben zu müssen. Wenn Sie nicht hingehen, andererseits…“
K: „Ja. Dann kann ich mein Studium auch nicht beenden. Das ist mir schon klar.“
[Sie bemerken vielleicht, dass an dieser Stelle das Gespräch schon nicht mehr so stark emotional ‚aufgeladen‘ ist. Der Klient beginnt, sich zu beruhigen. Dieser Effekt ist eine Folge der Verbalisierung emotionaler Gesprächsinhalte und eröffnet eine weniger von akuten Affekten bestimmte Auseinandersetzung mit dem Thema.]
T: „Sie gehen davon aus, die Prüfung anzutreten?“
K: „Ich denke schon. Mir wäre unwohler, wenn ich es gar nicht versucht hätte als wenn ich durchfiele.“
T: „Sie verfolgen Ihren Traum also weiter, auch wenn es einmal schwierig ist?“
K: „Ja, ich denke, dass es doch darauf ankommt. Nicht aufzugeben, wenn mal etwas nicht beim ersten Mal gelingt.“
T: „Wie fühlen Sie sich gerade?“
K: „Eigentlich ganz gut. Ein bisschen Angst habe ich vor der Nachprüfung schon noch. Aber ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass ich für mich eine Lösung gefunden habe, mit der ich meinen Weg ein Stück weiter gehen kann.“
T: [lächelt] „Ich freue mich sehr für Sie – Sie gehen Ihren Weg!“
Auch wenn diese Gesprächsskizze kurz und sicher unvollständig ist, soll sie Ihnen vermitteln, wie positiv wertschätzend, empathisch und kongruent – und dabei non-direktiv – ein Gespräch nach Rogers verlaufen kann. Die Lösung, die ein Klient am Ende für sich findet (auch wenn sie einmal unter Umständen nicht Ihren ärztlichen Vorstellungen entspricht), lässt ihn seinen Weg eigenverantwortlich weiter bestreiten und hilft ihm dabei, sich selbst und eigene Ängste besser zu akzeptieren. In der Gesprächspsychotherapie wird dieser Prozess Selbstexploration genannt und beschreibt das Verbalisieren des eigenen inneren Erlebens des Klienten und der gegenwärtigen Erfahrungen. Die damit verbundenen Gefühle und Bewertungen werden transparent und einer bewussten Verarbeitung und Aktualisierung zugänglich.
References
[1] Rogers CR. A theory of therapy, personality, and interpersonal relationships, as developed in the client-centered framework. In: Koch S, editor. Psychology: A study of a science. Study 1: Formulations of the person and the social context. Vol. 3. New York: McGraw-Hill; 1959. S. 184-256.[2] Rogers CR. Meine Beschreibung einer personenzentrierten Haltung. Zeitschrift für personenzentrierte Psychologie und Psychotherapie. 1982;1:75-8.