Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.5.1. Einführung in die sozialpsychologischen Grundlagen

 Thomas von Lengerke 1
Siegfried Geyer 2
Stefanie Sperlich 2


1 Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany
2 Medizinische Soziologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Germany

"Wie kann das Individuum sowohl Ursache als auch Folge der Gesellschaft sein? Also: Wie kann sein Wesen unbestreitbar von vorab existierenden kulturellen Gegebenheiten und vorgegebenen sozialen Strukturen abhängen und es gleichzeitig offenkundig eine einzigartige Person sein, die Einflüsse ihrer kulturellen Umwelten sowohl auswählt als auch zurückweist, und dadurch neue kulturelle Formen kreiert, die wiederum folgende Generationen beeinflussen?" (Original: [1], S. 91)

Die Sozialpsychologie untersucht das individuelle Erleben und Verhalten im sozialen Kontext und versucht zu verstehen und erklären, wie die Gedanken, die Gefühle und das Verhalten von Individuen durch die soziale Umwelt, d.h. die tatsächliche, vorgestellte oder mittelbare Anwesenheit Anderer beeinflusst werden.2 Wie das eingangs angeführte Zitat von Gordon W. Allport – einem der Gründerväter der Sozialpsychologie – verdeutlicht, erfolgt die Beeinflussung zwischen Person und Umwelt wechselseitig: Das Individuum unterliegt dem Einfluss der sozialen Umwelt („Folge der Gesellschaft“) ebenso wie das Individuum Einfluss auf seine soziale Umwelt nimmt („Ursache der Gesellschaft“). Medizinisch relevant ist dabei vor allem, wie die soziale Umwelt in der Interaktion mit individuellen Faktoren Einfluss auf Gesundheit, Krankheit und Sterblichkeit (epidemiologisch formuliert Morbidität und Mortalität) nimmt – wie sie also „unter die Haut geht“ [3].

Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, sich zunächst über die verschiedenen „Umwelten“ klar zu werden, die hier relevant sind. Abbildung 1 gibt einen entsprechenden Überblick, der die in den folgenden Kapiteln 2.5.2., 2.5.3. und 2.5.4. beschriebenen Konzepte verortet. Im Mittelpunkt stehen Individuen, die Unterschiede in gesundheitsrelevanten psychischen Variablen wie ihrem Optimismus, ihrer Selbstwirksamkeitserwartung (ihrer Überzeugung, Probleme lösen und Handlungen auf der Basis eigener Kompetenzen und trotz Barrieren ausführen zu können) oder ihrem Gefühl aufweisen, ein sinnerfülltes Leben zu führen. Unterschiede in diesen Variablen definieren psychische Ungleichheiten.

Abbildung 1: Individuelle gesundheitsrelevante psychische Faktoren im Kontext der sozialen und gesellschaftlichen Umwelt (eigene Darstellung)
Abbildung 1: Individuelle gesundheitsrelevante psychische Faktoren im Kontext der sozialen und gesellschaftlichen Umwelt (eigene Darstellung)

Diese „psychische Realität“ ist zunächst eingebettet in die (engere) soziale Umwelt, die aus Lebensbereichen wie der Familie oder der Arbeit besteht, mit der das Individuum interagiert. Hier sind soziale Beziehungen und soziale Rollen von zentraler Bedeutung. Schließlich ist die soziale Umwelt eingefasst in gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die beispielsweise durch Politik, Recht, Kultur und das Gesundheitssystem gesetzt werden. Auf dieser Ebene wirken soziale Normen (s. Kapitel 2.5.4.1.) und soziale Ungleichheiten (s. Kapitel 2.6.5.) auf die soziale Umwelt der Individuen und damit auch auf die Individuen selbst ein. Die gestrichelten „Grenzen“ zwischen den drei Ebenen sollen veranschaulichen, dass direkte Beeinflussung nicht nur zwischen Ebenen, die direkt aneinander angrenzen, sondern auch übergreifend möglich sind. So kann eine politische Maßnahme wie z.B. die Schaffung von Bewegungsinfrastrukturen direkt individuelles Verhalten fördern.

Zusammenfassend wird im Folgenden von der allgemeinen Verhaltensgleichung des Sozial­psychologen Kurt Lewin ausgegangen, der mit der Formel B=f(PE) beschrieb, dass Verhalten (behavior) eine Funktion von Person und Umwelt (environment) ist [4]. Dementsprechend wird die Bedeutung sozialpsychologischer Grundlagen für die Erklärung von Gesundheit und Krankheit herausgearbeitet. „Sozialpsychologie“ wird dabei als transdisziplinäre Problemstellung verstanden, bei der es um die Beziehungen zwischen Verhalten, Psychischem (gr. psychikós „zur Seele gehörend“3) und Sozialem (lat. socialis „gesellschaftlich“) geht. Zunächst wird die Perspektive der Umwelt eingenommen und die Bedeutung sozialer Normen und Rollen für das subjektive Erleben und Verhalten herausgestellt (Kapitel 2.5.2.). Danach werden in der Perspektive der Person die wichtigsten gesundheitsrelevanten psychischen Variablen erläutert, die sich aus sozialpsychologischen Modellvorstellungen ergeben (Kapitel 2.5.3.). Den Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Person Rechnung tragend wird abschließend die Perspektive der Sozialisation eingenommen. Sie verdeutlicht zum einen, wie im Laufe der individuellen Entwicklung soziale Normen und Rollen verinnerlicht werden und welche Bedeutung hierbei der sozialen Ungleichheit zukommt (Kapitel 2.5.4.1.). Zum anderen werden die Entwicklung und Gestaltung von sozialen Beziehungen sowie in diesem Zusammenhang gesundheitsrelevante Bindungsstile erläutert und abschließend aus entwicklungspsychologischer Perspektive dargestellt, wie verschiedene soziale Systeme auf gesundheitsrelevantes Verhalten wirken können (Kapitel 2.5.4.2.).


1 “How can the individual be both a cause and a consequence of society? That is to say: How can his nature depend indisputably upon the prior existence of cultural designs and upon his role in a pre-determined social structure, while at the same time he is clearly a unique person, both selecting and rejecting influences from his cultural surroundings, and in turn creating new cultural forms for the guidance of future generations?” ([1], dt. Übersetzung: Thomas von Lengerke).

2 “… an attempt to understand and explain how the thought, feeling, and behavior of individuals are influenced by the actual, imagined, or implied presence of others” ([1], S. 3; eine Definition, die auch noch in aktuellen Standardlehrbüchern zugrunde gelegt wird; vgl. z.B. [2])

3 Hier im Sinne des biopsychosozialen Grundverständnisses der Medizin (s. Kapitel 1.1.) als Gesamtheit menschlichen Erlebens gemeint.


References

[1] Allport GW. The Historical Background of Modern Social Psychology. In: Lindzey G, Aronson E, editors. The Handbook of Social Psychology, Vol 1: Historical Introduction, Systematic Positions. 2nd ed. Reading: Addison-Wesley; 1968. p. 1-80.
[2] Stroebe W, Hewstone M, Jonas K. Einführung in die Sozialpsychologie. In: Jonas K, Stroebe W, Hewstone M, editors. Sozialpsychologie. 6th ed. Berlin, Heidelberg: Springer; 2014. p. 1-28. DOI: 10.1007/978-3-642-41091-8
[3] Taylor SE, Repetti RL, Seeman T. Health psychology: what is an unhealthy environment and how does it get under the skin? Annu Rev Psychol. 1997;48:411-47. DOI: 10.1146/annurev.psych.48.1.411
[4] Lewin K. Principles of Topological Psychology. New York: McGraw-Hill; 1936.