Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.5.3. Die Perspektive der Person: Gesundheitsrelevante psychische Variablen

 Thomas von Lengerke 1


1 Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland

2.5.3.1. Zwei „Pfade“, auf denen die Umwelt „unter die Haut“ geht

Im Rahmen ihrer gesellschaftlichen und sozialen Umwelt(en) ist es für Menschen bedeutsam, ihre sozialen Rollen und Normen zu erfüllen. Um zu beschreiben, wie die Umwelt und das Individuum interaktiv Einfluss auf Gesundheit und Krankheit nehmen, haben sich zwei vermittelnde, sich teilweise überlappende „Pfade“ herauskristallisiert: das Erleben und die Bewältigung von (Dis-)Stress sowie die Motivation zu und die Ausführung von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen (GRV) [1], [2]. Zahlreiche gesundheitsrelevante psychische Variablen sind in diesem Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung. Gemeinsam ist diesen Variablen die Ausrichtung auf persönliche Ziele, die dem alltäglichen Handeln von Menschen Richtung und Persistenz verleihen [3].

In persönlichen Zielen sind subjektiv erwünschte und angestrebte Zustände oder Ergebnisse abgebildet. Diese können i.S. von Zwischenzielen vorläufig sein oder Endpunkte darstellen. Menschen verfolgen in der Regel mehrere Ziele gleichzeitig, die Dreh- und Angelpunkte der Verhaltenssteuerung darstellen. Hierarchisch sind diese Ziele in sog. Zielsystemen organisiert und unterscheiden sich in folgenden Zieldimensionen: Bedeutsamkeit, Spezifität, Erreichbarkeit und zeitliche Nähe (Proximität). Wenn Menschen sich Ziele setzen, die hohe Ausprägungen auf diesen Dimensionen haben, erreichen sie diese mit erhöhter Wahrscheinlichkeit.

Ebenso fördern die Formulierung positiver Ziele (vs. Vermeidung negativer Ereignisse), der Aufbau neuer Kompetenzen (vs. Performanz vorhandener Kompetenzen) und die Antizipation innerer (vs. äußerer) Belohnungen den Zielerreichungsgrad. Die Zielorganisation kann vertikal i.S. abstrakter vs. konkreter Ziele beschrieben werden. Zugleich sind Ziele horizontal organisiert. Diese Dimension bildet vor allem die Kohärenz der Ziele ab, also das Ausmaß ihrer Widerspruchsfreiheit bzw. Widersprüchlichkeit. Die Zielinhalte schließlich beziehen sich auf die abgebildeten Themen. Grundsätzlich können Ziele, die sich auf die eigene Person beziehen (z.B. positive Gefühle und Gedanken, Gesundheit und Lebenssinn), von Person-Umwelt-Zielen unterschieden werden (z.B. soziale Integration und Anerkennung).

„Pfad 1“: Stresserleben und -bewältigung

Menschen investieren zunächst dann besonders viel in zielorientierte Aktivitäten, wenn deren Erreichung gefährdet ist bzw. erscheint. Ein Risikofaktor in diesem Zusammenhang ist Stress. Stress kann als Zustand definiert werden, bei dem es im Prozess der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Umwelt zu kritisch erlebten Dysbalancen zwischen inneren und äußeren Anforderungen und bewältigungsrelevanten inneren und äußeren Ressourcen kommt. Stresserleben kann vor allem bei stark negativen und chronischen Dysbalancen vermittels psychischer, behavioraler und physiologischer Prozesse u.a. zu kardiovaskulärer und psychischer Morbidität und Mortalität führen. Dabei geht chronischer Stress in der Regel aus dauerhaften sozialen Rollen (s. Kapitel 2.5.2.) hervor, deren Erfüllung wiederkehrende Beanspruchungen darstellt. Diese Rollen beinhalten quasi „Regieanweisungen“ der Gesellschaft bzw. relevanter Gruppen und definieren Anforderungen und soziale Normen (Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen).

Eine der einflussreichsten psychologischen Stresstheorien ist der kognitiv-transaktionale Ansatz ([4]; s.a. Kapitel 3.2.1.1.). Er unterscheidet drei Arten von Bewertungen. Primäre Bewertungen beziehen sich darauf, ob eine Situation, in der sich eine Person befindet, als irrelevant, positiv oder belastend sowie im letzteren Falle als Schädigung, Verlust, Bedrohung oder Herausforderung bewertet wird. Sekundäre Bewertungen beziehen sich auf die eigenen Möglichkeiten, die Anforderungen zu bewältigen. Nach Bewältigungsversuchen werden Neubewertungen vorgenommen. Das zweite Kernkonzept ist die Stressbewältigung (Coping). Grundsätzlich werden problemorientiertes (Problemlösung) und emotionsorientiertes Coping (Linderung der Belastungssymptome) unterschieden.

Stärker sozialpsychologisch orientiert ist die Theorie der Ressourcenerhaltung und das multiaxiale Coping-Modell [5]. Grundsätzlich geht es davon aus, dass „… Menschen dazu neigen, die eigenen Ressourcen bzw. Hilfsmittel und Fähigkeiten zu schützen und danach zu streben, neue aufzubauen“ ([5], S. 13). Bei gleichem Ausmaß an Ressourcenverlusten und -gewinnen haben die Verluste stärkere Effekte, womit verhaltensökonomische Überlegungen zur Verlustaversion (also der Tendenz, Verluste höher zu gewichten als Gewinne) berücksichtigt werden. Es wird angenommen, dass Menschen Ressourcen investieren, um sich vor Verlusten zu schützen, sich von ihnen zu erholen und neue Ressourcen zu erlangen. Damit sind Menschen mit vielen Ressourcen weniger verletzlich gegenüber Verlusten und können vorhandene Ressourcen eher gewinnbringend einsetzen (Gewinnspirale), während Menschen mit weniger Ressourcen vulnerabler für Verluste und weniger prädestiniert für Gewinne von Ressourcen sind (Verlustspirale).

Sozialpsychologisch besonders interessant ist in dieser Theorie die Systematik der Stressbewältigung. Das multiaxiale Modell konzeptualisiert Coping explizit im Kontext objektiver Situationsmerkmale und sozialer Beziehungsmuster, indem es individuelles und gemeinschaftliches Coping unterscheidet. Es trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die meisten Anforderungen, Herausforderungen und Belastungen nicht nur individuelle, sondern dyadisch oder gemeinschaftlich geteilte Phänomene darstellen und von den Beteiligten gemeinsames Coping erfordern [5]. Weiterhin spezifiziert es neben der Dimension „aktives – passives Coping“ die Achse „prosoziales – antisoziales Coping“. Ersteres meint adaptive Handlungen, „(…) bei denen man sich um andere bemüht, ihre Hilfe sucht oder sich in einer Weise verhält, die positive soziale Interaktionen beinhaltet“ ([5], S. 19). Demgegenüber ist antisoziales Coping durch die „(…) Intention, andere zu verletzen oder entstandene Verletzungen zu ignorieren“ ([5], S. 19) gekennzeichnet. Im Mittelpunkt der Achse stehen sozial isolierte Handlungen. Schließlich umfasst das Modell die Achse „indirektes – direktes Coping“, die interkulturelle Unterschiede und hierarchische soziale Situationen beschreibt. Indirektes Coping meint strategisch-diplomatische Herangehensweisen, während direktes Coping ein Vorgehen beschreibt, das offen und ohne Umschweife zur Problembewältigung kommt.

Insgesamt berücksichtigen die Theorie der Ressourcenerhaltung und das multiaxiale Coping-Modell die Tatsache, dass viele Belastungen sozial definierte und geteilte Probleme darstellen, und stellen die Frage, ob Coping auf kollektiven oder individualistischen Orientierungen beruht. Beides sind gute Voraussetzungen für eine sozialpsychologische Analyse der gemeinsamen Bewältigung von Problemen in der Medizin, z.B. durch Arzt und Patient, durch Patient und Angehörige oder auch durch (multidisziplinäre) Teams in den unterschiedlichen Organisationen des Gesundheitssystems.

 

„Pfad 2“: Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen (GRV)

Die führenden vermeidbaren gesundheitsbezogenen Risiken sind Verhaltensweisen oder zumindest verhaltens(mit)bedingt: ungeschützter Geschlechtsverkehr, Hypertonie, Tabakkonsum, Hypercholesterinämie, Untergewicht, Alkoholmissbrauch, Übergewicht, mangelnder Konsum von Früchten und Gemüse, Eisenmangel und körperliche Inaktivität. Bereits im Jahr 2000 entfielen global 59% aller Todesfälle und 39% aller verlorenen gesunden Lebensjahre auf diese Faktoren [6]. Vier der Verhaltensbereiche – Rauchen, Alkoholkonsum, Bewegung und Ernährung (RABE) – sind in laut OECD sehr hoch entwickelten Ländern besonders bedeutsam für das Morbiditäts- und Mortalitätsgeschehen.

Welche psychischen Faktoren fördern gesundes Verhalten? Die Gesundheitspsychologie hat hierzu hilfreiche Modellvorstellungen entwickelt [1], [2], [7]. Dabei werden zentrale Faktoren meist als verhaltensspezifische Variablen konzipiert. So kann sich ein Patient zutrauen, auch unter schwierigen Bedingungen körperlich so aktiv zu sein, wie es ihm sein Arzt empfohlen hat, und zugleich eine solche sog. „Selbstwirksamkeitserwartung“ (s.u.) in Bezug auf dessen Ernährungsempfehlungen nicht besitzen. Während solche verhaltensspezifischen Variablen in Kapitel 5.1.1. thematisiert werden, werden im Folgenden eher generische Varianten dieser Variablen dargestellt, also z.B. die allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung als Vertrauen darauf, schwierige Situationen im Allgemeinen selbst meistern zu können. Es geht also eher um Persönlichkeitseigenschaften (s. Kapitel 2.3.2.), die Verhalten in verschiedenen Situationen und über längere Zeiträume hinweg beeinflussen und es damit zumindest teilweise beschreiben, erklären und prognostizieren können. Neben gesundheitsrelevantem Verhalten gelten diese auch als wichtig für eine erfolgreiche Stressbewältigung, so dass sie für beide „Umwelt-Person-Pfade“ – also Stress und gesundheitsrelevantes Verhalten – von zentraler Bedeutung sind.

Optimismus

Neben der Abwehr von Stressoren, die die Erreichung persönlicher Ziele gefährden, ist eine weitere „treibende Kraft“, die Menschen dazu anregt, Energie in zielorientierte Aktivitäten zu investieren, die Antizipation von Positivem. Entsprechende Zukunftserwartungen bilden den Kern des Konstrukts Optimismus (lat. optimum, „das Beste“). So verfügen Menschen mit hohem dispositionalen Optimismus über generalisierte positive Ergebniserwartungen, blicken also allgemein zuversichtlich in ihre Zukunft [8]. Dabei spielt zunächst keine Rolle, ob sich die Dinge der subjektiven Wahrnehmung nach durch oder ohne eigenes Zutun positiv entwickeln werden. Optimismus hat sowohl präventiv und kurativ positive Effekte auf physische und psychische Gesundheitsindikatoren als auch bei Patienten mit Krebserkrankungen auf posttraumatisches Wachstum. Neben der Stress reduzierenden Wirkung des dispositionalen Optimismus ist eine weitere Erklärung für seine positiven Effekte, dass dispositionale Optimisten günstige Handlungs-Ergebnis-Erwartungen haben (vgl. Kapitel 5.1.1.).

Gesundes Verhalten wird nicht nur durch erwartete gesundheitliche Konsequenzen, sondern auch andere erwartete Folgen motiviert. Diese Konsequenzen können sich auf die Befindlichkeit, soziale Integration oder persönliche Ressourcen beziehen. Handlungs-Ergebnis-Erwartungen sind daher als Erwartungen definiert, dass einem bestimmten (eigenen) Verhalten bestimmte Ergebnisse folgen werden [9]. Sie beinhalten somit Kosten- und Nutzen-Aspekte und sind um so verhaltenswirksamer, je enger die Handlung an die eigene Person geknüpft ist.

Handlungs-Ergebnis-Erwartungen können im Rahmen von Erwartungs-mal-Wert-Ansätzen [10] betrachtet werden. Die erwarteten Konsequenzen werden dem Verhalten mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten zugeschrieben (Erwartung) und negativ oder positiv bewertet (Wert). Erwartungen und Werte werden dabei jeweils multiplikativ verknüpft, und die aufsummierten Produkte ergeben die Nutzen-Kosten-Bilanz der Person zu dem Verhalten.

Nicht alle Spielarten optimistischen Denkens sind langfristig funktional. So existieren situations- bzw. risikospezifische Erwartungen, die darin bestehen, dass Menschen das eigene Risiko, von gesundheitlichen Einschränkungen oder Krankheiten betroffen zu werden, geringer einschätzen als das Risiko anderer Menschen gleichen Alters und Geschlechts oder das objektiv-medizinisch prognostizierte Risiko. Diese Tendenz wird als unrealistischer Optimismus bezeichnet („… it won’t happen to me“ [11]). Sie kann motivationale Grundlage für ungesunde Verhaltensweisen sein, denn: Zumindest intentional gesundes Verhalten (also solches, das nicht nur gesund wirkt, sondern absichtlich zur Erreichung gesundheitlicher Ziele ausgeführt wird) setzt die Wahrnehmung eines Risikos für die eigene Person voraus. Ein solches subjektives Risiko ist definiert als multiplikative Verknüpfung zwischen dem wahrgenommenen Schweregrad des unerwünschten Ereignisses und der Vulnerabilität der eigenen Person (Wahrscheinlichkeit der eigenen Betroffenheit).

Eine dritte Form optimistischen Denkens ist paradoxerweise vergangenheitsorientiert, da sie subjektive Erklärungen bereits eingetretener Ereignisse umfasst: Kausal-Attributionen, also Annahmen über Ursachen. Optimistische Menschen führen positive Ereignisse und Erfolge auf internale, stabile und globale Ursachen wie z.B. die eigene Fähigkeit oder die generelle Arbeitshaltung zurück, negative Ereignisse oder Misserfolge hingegen auf externale, variable und spezifische Faktoren (z.B. „Dieses Mal hatte ich Pech.“). Dieser Attributionsstil gilt als selbstwertfördernd. Pessimistische Menschen hingegen schreiben Erfolge Faktoren wie z.B. der geringen Aufgabenschwierigkeit oder Glück zu, Misserfolge dagegen eigener mangelnder (genereller) Fähigkeit oder fehlender Einsatzbereitschaft.

Hoffnung

Ein weiteres, dem Optimismus ähnliches Konstrukt, das erklärt, weshalb Menschen zielorientierte Aktivitäten verfolgen, ist Hoffnung. So steckt im englischen hope etymologisch das altenglische hopa als Zuversicht in die Zukunft. Studien haben ergeben, dass sich Dinge, Ereignisse o.Ä., auf die Menschen hoffen, meist durch hohe subjektive Wichtigkeit, soziale und moralische Akzeptanz und mittlere personale Kontrollierbarkeit und mittlere Eintrittswahrscheinlichkeit auszeichnen (während z.B. gewünschte Objekte durch niedrigere Eintrittswahrscheinlichkeiten gekennzeichnet sind) [12]. Eine bekannte Theorie definiert Hoffnung als einen Zustand gegebener persönlicher Ziele, zu deren Erreichung subjektiv wahrgenommene Wege und Pläne (Handlungspfade) existieren, zu deren Verfolgung bzw. Umsetzung man sich selbst motiviert und in der Lage fühlt (volitionales1 Wirkungsdenken) [13]. Handlungspfade und Wirkungsdenken sind die definitorischen Kerne von Hoffnung. Die Theorie unterscheidet positive Ziele, bei denen erwünschte Zustände erstmalig erreicht, aufrechterhalten oder ausgebaut werden sollen, und negative Ziele, bei denen unerwünschte Zustände vermieden oder verzögert werden sollen. Ebenso werden Strategien zur Steigerung der Hoffnungskomponenten beschrieben [14].

Selbstwirksamkeitserwartungen

Das Motiv, angestrebte Ziele, Zustände, Wirkungen oder Folgen auch unter widrigen Umständen durch eigenes Handeln bzw. zumindest mittels eigener oder selbst organisierter Ressourcen erreichen zu können, ist für die meisten Menschen zentral. Dementsprechend nehmen Selbstwirksamkeitserwartungen (SWE) inzwischen in praktisch allen Gesundheitsverhaltenstheorien eine zentrale Rolle ein. SWE sind definiert als subjektive Überzeugungen, in der Lage zu sein, zielführende Verhaltensweisen mit Hilfe eigener Ressourcen organisieren und zeigen zu können, und zwar auch angesichts unvorhergesehener oder schwieriger Barrieren [15]. Im Vergleich zur Hoffnung stellen SWE Kontrollüberzeugungen also noch konsequenter in den Vordergrund. Wichtig ist, dass es sich um Erwartungen handelt (im Englischen durch den Begriff „capabilities“ repräsentiert, der im Gegensatz zu „abilities“ auf zukünftige Kompetenzen verweist).

 

Die generalisierte Selbstwirksamkeitserwartung meint das Vertrauen darauf, schwierige Situationen im Allgemeinen aufgrund eigener Kompetenz meistern zu können. Es werden vier Quellen von Selbstwirksamkeitserwartungen unterschieden (in absteigender Reihenfolge der Einflussstärke) [7], [15]:

  1. Eigene frühere Erfolgserfahrungen, weshalb den größten Effekt auf SWE in der Regel praktische Übungen des Verhaltens und zum Umgang mit Barrieren haben (z.B. im Sinne von sog. „graded tasks“, also Übungen mit aufsteigender Schwierigkeit, die früh Erfolgserlebnisse ermöglichen);
  2. stellvertretende Erfahrung bzw. Modelllernen, was z.B. bei Rollenmodellen nutzbar ist;
  3. verbal-kognitive Verstärkung, die z.B. in Beratungen genutzt wird; und
  4. physiologisch-affektive Erregungszustände, die Menschen z.B. in neuen Anforderungssituationen erleben, wenn Angst entsteht, die wiederum als indikativ für eine geringe SWE interpretiert wird (weshalb hier Angstreduktions- und Entspannungstechniken hilfreich sein können).

Selbstkontrolle

Damit Optimismus, Hoffnung und Selbstwirksamkeitserwartungen in Verhalten umgesetzt werden, ist das Erleben von Selbstkontrolle zentral. Sie ist ein Spezialfall von Selbstregulation. Nach diesem Konzept regulieren Menschen sich selbst (zumindest potenziell) analog zu kybernetischen Vorstellungen von Handlungs-Ergebnis-Rückkoppelungen i.S. von Test-Operate-Test-Exit-(TOTE-)Einheiten [16]. Dabei werden im ersten Schritt („Test“) Ist- mit Soll-Werten verglichen und im Falle von Diskrepanzen wird versucht, sie durch zielführendes Verhalten auszugleichen („Operate“). In weiteren Test-Schritten werden die neuen Ist- mit den Soll-Werten verglichen und der Kreislauf bei hinreichender Übereinstimmung verlassen („Exit“). Selbstkontrolle setzt vor allem am Operate-Schritt an und beschreibt die Überwindung oder Veränderung eigenen Verhaltens sowie die Unterbrechung von bzw. das Widerstehen gegenüber unerwünschten Verhaltenstendenzen (z.B. impulsivem Verhalten). Besteht also ein Konflikt zwischen mehreren Verhaltensweisen, die jeweils positive und negative sowie lang- und kurzfristige Konsequenzen haben, kann Selbstkontrolle das Widerstehen von Versuchungen bedeuten, also den Verzicht auf kurzfristige positive Effekte, oder das Aushalten aversiver Situationen („heldenhaftes Verhalten“) unter Inkaufnahme kurzfristiger negativer Effekte, was auch als Fähigkeit zum Belohnungsaufschub bezeichnet wird [17]. Wichtig ist auch der Umstand, dass Menschen mit hoher Selbstkontrolle in der Regel mehr soziale Unterstützung zur Verfügung haben.

Resilienz

Im Falle günstiger Ausprägungen der bisher beschriebenen gesundheitsrelevanten psychischen Variablen kann von einer hohen psychischen Widerstandsfähigkeit ausgegangen werden. Diese Resilienz genannte Invulnerabilität kommt dann zum Tragen, wenn die Person inneren oder äußeren Risiken und Belastungen ausgesetzt ist, und trägt dazu bei, dass sie „trotzdem“ gesund bleibt oder sich relativ leicht von Störungen erholt. Resilienz kann also als Prozesse oder Phänomene definiert werden, die eine positive Anpassung des Individuums trotz vorhandener Risikofaktoren widerspiegeln. Damit stellt sie eher einen Oberbegriff für die anderen o.g. Konzepte bzw. als Person-Umwelt-Konstellation einen Ergebnisparameter von Prozessen der Stressbewältigung und Verhaltenssteuerung dar.

Lebenssinn

Während Resilienz vor allem negative Entwicklungen verhindern hilft, garantiert sie noch kein gelingendes Leben [18]. Nicht nur philosophische Überlegungen, sondern auch empirische Studien haben gezeigt, dass dazu die Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit des eigenen Handelns und Lebens förderlich und zuweilen notwendig ist. Psychologisch wird Lebenssinn als subjektive Bewertung des eigenen Lebens als kohärent, bedeutsam, orientiert und zugehörig definiert (Sinnqualität). Sinnerfüllung wird dementsprechend u.a. von der Einschätzung geprägt, dass sich Erfahrungen in sinnvoller Weise ergänzen, durch eigenes Handeln Wirkung erzielt werden kann, Pläne für den eigenen künftigen Lebensweg bestehen und dass man sich als Teil von einem größeren Ganzen erlebt. Es haben sich positive Zusammenhänge nicht nur mit psychischer, sondern auch physischer Gesundheit gezeigt. Auch sind Sinnfragen für Patienten nicht zuletzt in den letzten Lebensjahren von Bedeutung – und bestimmt vom Erreichen persönlicher Ziele, zu denen die o.g. psychischen Ressourcen beitragen.

2.5.3.2. Schlussbetrachtung

In diesem Kapitel lag der Schwerpunkt auf gesundheitsrelevanten psychischen Personenmerkmalen. Dabei sind Stressbewältigung und Verhaltenssteuerung in die soziale und gesellschaftliche Umwelt eingebettet. Daher soll abschließend in Anlehnung an das sozialökologische Modell [19] am Beispiel körperlicher Aktivität beschrieben werden, wie soziale Beziehungssysteme in Interaktion mit psychischen Variablen Einfluss auf GRV nehmen kann (s. Kasten 1). Im folgenden Kapitel 2.5.4. werden dann Sozialisations- und Entwicklungsbedingungen von sozialen Normen, Rollen und Beziehungen dargestellt.

Kasten 1: Sozialökologische Einflüsse auf gesundheitsrelevantes Verhalten und ihre Interaktion mit gesundheitsrelevanten psychischen Variablen gemäß dem Modell von Bronfenbrenner [19] am Beispiel der körperlichen Aktivität

  1. Mikrosysteme sind Muster individueller Tätigkeiten, sozialer Rollen und interpersoneller Beziehungen, die eine Person in ihrer sozialen Umwelt erlebt. Deren physische, soziale und symbolische Merkmale fordern zur Interaktion mit dieser unmittelbaren Umgebung auf (erlauben oder verhindern sie). So fördern Familien, in denen Eltern sportlich aktiv sind, positive Überzeugungen vertreten und zur Bewegung ermutigen, die körperliche Aktivität der Kinder: Durch Erfolgserfahrung und Modelllernen werden Handlungs-, Ergebnis- und Selbstwirksamkeitserwartungen aufgebaut, die als Ressourcen wirken.
  2. Mesosysteme umfassen mindestens zwei miteinander interagierende Mikrosysteme. So kann ein Kind, das in seiner Familie keine ausreichende Förderung körperlicher Aktivität erhält und mit ungeeigneter Kleidung in die Kindertagesstätte geschickt wird, in einen Konflikt zwischen Eltern und Erziehern als Vertreter der beiden Mikrosysteme geraten. In einem solchen Konflikt ist die Fähigkeit zum gemeinschaftlichen Coping bedeutsam: Für den Fall, dass aktiv und prosozial bewältigt wird (also dergestalt, dass sich die Beteiligten in positiver sozialer Interaktion um den jeweils anderen bemühen), können Bewältigungsstrategien für spätere soziale Konfliktsituationen eingeübt werden.
  3. Exosysteme meinen Verknüpfungen zwischen Mikro- oder Mesosystemen, von denen mindestens eines die Person nicht enthält. So regeln z.B. Kultusministerien die Ziele curricularen Schulsports und nehmen so indirekt Einfluss auf Kinder und Familien, indem sie die Ziele so definieren, dass sie bei erfolgreicher Vermittlung zu persönlichen Zielen der Kinder werden.
  4. Makrosysteme beschreiben Muster von Mikro-, Meso- und Exosystemen, die (Sub-)Kulturen beschreiben. Im Kern stehen kollektive Glaubens- und Überzeugungssysteme, materielle Ressourcen, Traditionen, Lebensstile, -chancen und -risiken, kurz: kulturell-gesellschaftliche Grundlagen. Es werden sechs Kulturdimensionen unterschieden [20]: Machtdistanz (Akzeptanz ungleicher Verteilung von Macht), Individualismus vs. Kollektivismus (Selbstbestimmung und „Ich“-Erfahrung vs. soziale Integration und „Wir“-Gefühl), Maskulinität vs. Femininität (u.a. Konkurrenzbereitschaft und Selbstbewusstsein vs. Fürsorglichkeit und Kooperation), Unsicherheitsvermeidung (negative Bewertung von unvorhergesehenen Situationen), lang- vs. kurzfristige Orientierung (zeitliche Planungshorizonte, z.B. Sparsam- und Beharrlichkeit vs. Flexibilität und Egoismus) und Nachgiebigkeit vs. Beherrschung (Fähigkeit zur Impulskontrolle). Bezüglich GRV sind solche Dimensionen z.B. wie folgt relevant. Der Zusammenhang zwischen der Überzeugung einer Person, wie sehr ein Verhalten von anderen Personen erwartet wird und inwieweit sie diesen Erwartungen entsprechen soll (subjektive Norm), und der Absicht, das Verhalten auch auszuführen (Intention), ist in Kulturen mit hoher Machtdistanz größer. Für körperliche Aktivität kann dies bedeuten, dass Interventionen, die an gesellschaftlichen Normen ansetzen, in Ländern mit hoher Machtdistanz wie z.B. asiatischen Ländern bessere Erfolgschancen haben.
  5. Chronosysteme beschreiben Veränderung bzw. Stabilität sowohl der Person als auch ihrer Umwelt. Das Modell betont das Verständnis von Zeit nicht (nur) als biologisches Alter, sondern auch i.S. historischer Zeit und Lebenslauf-Parametern. So tendiert körperliche Aktivität dazu, in der Transition von Kindheit zum Erwachsenenalter abzunehmen, wobei Studien zu lebensphasenspezifischen Prädiktoren dieses Verhaltens gezeigt haben, dass Selbstwirksamkeitserwartungen und bewegungsfördernde Infrastrukturen der Schule und am Wohnort besonders für Kinder und Jugendliche bedeutsam sind, während Stress und ungünstige Bedingungen wie fehlende Bürgersteige und Straßenbeleuchtungen bei Erwachsenen negativ wirken.

Zusammenfassender Überblick

  • Die soziale und gesellschaftliche Umwelt gehen vor allem über das Erleben und die Bewältigung von Stress und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen „unter die Haut“.
  • Zu den gesundheitsrelevanten psychischen Variablen, die in Interaktion mit der Umwelt erfolgreiche Stressbewältigung und gesundes Verhalten beeinflussen, gehören persönliche Ziele, dispositionaler Optimismus, Hoffnung, Selbstwirksamkeitserwartung und Selbstkontrolle. Als generische, d.h. verhaltensunspezifische Faktoren, tragen sie zu individueller Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) und Lebenssinnerfüllung bei.
  • Zur Abbildung der Interaktion verschiedener sozialer Beziehungssysteme und gesundheitsrelevanten psychischen Variablen im Hinblick auf Stressbewältigung und gesundheitsrelevantes Verhalten kann u. a. das aus der Entwicklungspsychologie stammende sozialökologische Modell von Bronfenbrenner [19] verwendet werden.

1 Der Begriff „Volition“ beschreibt in der Psychologie Zustände und Prozesse menschlichen Willens bzw. Wollens. 


References

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