Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.6.1. Theoretische Ansätze der Soziologie

 Nico Dragano 1


1 Institut für Medizinische Soziologie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Medizinische Fakultät, Düsseldorf, Deutschland

2.6.1.1. Einleitung

Krankheit und Gesundheit, das machen viele Beiträge in diesem Buch deutlich, sind keine rein private Angelegenheit. Vielmehr haben gesellschaftliche Faktoren einen großen Einfluss darauf, wie Menschen sich verhalten, welchen Risikofaktoren sie ausgesetzt sind und ob – und zu welchem Preis – sie eine medizinische Versorgung erhalten. Ein Studium der Ursachen von Erkrankungen und deren Behandlung muss die soziale Natur des Menschen daher mitdenken. Die Soziologie als die Wissenschaft von der Funktionsweise der Gesellschaft liefert die hierzu benötigten Theorien.

Eine soziologische Theorie besteht aus „logischen Verknüpfungen von Variablen, Sätzen, Begriffen oder auch Konzepten“ (vgl. [1], S. 20), die verallgemeinerbare Aussagen über die Gesellschaft als Ganzes, einzelne Teile der Gesellschaft oder auch nur über einzelne Abschnitte menschlicher Interaktion treffen. Um sich sozialen Phänomenen zu nähern, sind Theorien unverzichtbar, denn sie reduzieren Komplexität, indem sie versuchen, grundlegende Funktionsweisen und wiederkehrende Muster der sozialen Wirklichkeit offenzulegen, ohne alle Details erklären zu wollen. Erst so wird die überkomplexe soziale Wirklichkeit für eine wissenschaftliche Analyse fassbar. Ein Gesundheitssystem als Ganzes ‚zu verstehen‘ ist beispielsweise unmöglich. Mit Hilfe von Theorien können aber einzelne Phänomene wie z.B. Spannungen zwischen ökonomischen und medizinischen Interessen erklärt, gemessen und ggf. in ihrer Entwicklung vorausgesehen werden. Bis auf wenige Ausnahmen sind soziologische Theorien so konzipiert, dass ihre Annahmen empirisch prüfbar sind.

Wie kann man Soziologie definieren? Ein Beispiel: „Soziologie ist die Wissenschaft von der Gesellschaft und den in ihr lebenden Menschen. Ihre Aufgabe ist es – oder könnte es sein:

a) die Merkmale dieser Gesellschaften zu beschreiben;

b) die Ursachen für sozialen Fortschritt oder soziale Stagnation herauszufinden;

c) die Handlungen der Gesellschaftsmitglieder zu analysieren und

d) diese Handlungen von Individuen und Gruppen mit den gesellschaftlichen Strukturen in Beziehung zu setzen.“ ([2], S. 12)

Die Medizin hat bereits relativ früh Perspektiven und Sichtweisen eingenommen, die man heute als „soziologisch“ bezeichnen würde, um konkrete medizinische Probleme zu verstehen und zu lösen. Im 19. Jahrhundert haben beispielsweise Ärzte wie Rudolph Virchow, Salomon Neumann oder Louis-René Villermé soziale Erklärungen für das gehäufte Auftreten von Krankheiten in der armen Bevölkerung angeführt und darauf aufbauend (sozial-)politische Strategien für die Verbesserung der Gesundheit entwickelt [3]. Das waren beispielsweise Initiativen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen oder die Erleichterung des Zugangs zu medizinischer Versorgung. Die damals noch unsystematische Verbindung von medizinischen und soziologischen Ansätzen steht mittlerweile auf einem breiteren wissenschaftlichen Fundament [3], [4]. So finden heute soziologische Theorien in der medizinischen Forschung und Praxis bei verschiedenen Fragestellungen Verwendung. Die Medizin ist zunächst selbst ein komplexes soziales System, das hochgradig ausdifferenziert ist und das die in ihm agierenden Personen (Patienten, Ärztinnen, Psychologen, Pflegekräfte etc.) mit umfassenden Zwängen konfrontiert, die ihr tägliches Handeln in starkem Maße lenken. Möchte man beispielsweise die Wechselwirkungen zwischen ärztlichem Handeln und strukturellen Parametern, wie der Finanzierung von Krankenhäusern, nachvollziehen, helfen Theorien zur sozialen Organisation von Institutionen dabei, Ursachen konkreter Handlungen aufzudecken. So sind Institutionen Vermittler von gesellschaftlich priorisierten Handlungsnormen, z.B. der Norm, wirtschaftlich zu handeln, und bilden zugleich Mechanismen zur Durchsetzung dieser Normen im Alltag aus (z.B. Dokumentationspflichten, Benchmarking-Systeme). Zwingend nötig ist soziologisches Theoriewissen auch bei der Erklärung von Krankheitsursachen. Dies beginnt beim Verständnis von gesundheitsbezogenem Verhalten (z.B. Essen, Trinken, Sport), das hochgradig sozio-kulturell geformt ist und Menschen von frühester Kindheit an so vermittelt wird, dass diese die in ihrer Kultur erwarteten Verhaltensweisen verinnerlichen. Weitere soziale Determinanten der Gesundheit wie Armut, Gewalt oder soziale Ausgrenzung haben ihren Ursprung definitionsgemäß in der sozialen Welt. Auch die Frage, wie die Gesellschaft mit Gesundheit und Krankheit umgeht, d.h., was sie als gesund und was als krank ansieht, welche Verhaltensweisen man von Kranken erwartet und wie man auf sie reagiert, ist eine soziologische Frage.

 

2.6.1.2. Soziologische Theorien

Es gibt keine allgemeingültige Systematik, die es erlaubt, Theorien in eine eindeutige Ordnung zu bringen. Allein schon die Zusammenfassung zu verschiedenen Schulen und Denkrichtungen ist schwierig. Grob kann man Theorien danach unterscheiden, ob sie tendenziell eher eine Vogelperspektive einnehmen und sich dafür interessieren, wie ganze Gesellschaftssysteme entstehen, sich stabilisieren und erneuern (Makro- oder Systemtheorien) oder ob sie eher auf der Mikroebene ansetzen und Handlungen von Menschen in konkreten sozialen Situationen zum Gegenstand haben (Handlungstheorien) [5]. Dazwischen gibt es einen weiten Raum, in dem das Wechselspiel zwischen strukturellen Vorgaben und handelnden Personen betrachtet wird oder der Umgang der Gesellschaft mit äußeren (z.B. Infektionskrankheiten, Klimawandel) und inneren Erscheinungen (z.B. mit psychisch kranken Mitgliedern): Untersuchungsschwerpunkte liegen dabei mal mehr auf dem System und mal mehr auf der Handlung. Die Vielfalt der Theorien erklärt sich aus der Komplexität ihres Gegenstandes. Es kann hier kaum allgemeingültige Aussagen im Sinne naturwissenschaftlicher Gesetze geben, weil sich Gesellschaften kontinuierlich ändern und sich eine ahistorische Betrachtung somit verbietet. Historische Veränderungen spiegeln sich auch in der Tradition soziologischer Theorien wider. Bei der Entstehung der Soziologie als Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich soziologische Arbeiten vor allem mit der frühkapitalistischen Gesellschaft und ihren Verwerfungen sowie grundlegenden Fragen gesellschaftlicher Regeln (klassische Theorien), während sich die Soziologie in jüngerer Zeit Phänomenen wie der Pluralität und Diversität von Gesellschaften oder der Digitalisierung widmet (Theorien der Gegenwart) [1].

 

2.6.1.3. Soziologische Theorien in der Medizin

Wie die Medizin hat auch die Soziologie als Disziplin mittlerweile einen hohen Grad an Differenzierung erreicht. Das macht es schwierig, soziologische Theorie auf wenigen Lehrbuchseiten zu beschreiben. Allerdings sind bei Weitem nicht alle theoretischen Ansätze für die Medizin relevant, zudem wurde für viele Theorien bislang gar nicht geprüft, ob sie auch auf medizinische Phänomene anwendbar sind. Die folgende Darstellung beschränkt sich daher auf einen stark vereinfachten Ansatz (vgl. [3]). Es werden lediglich Beispiele für theoretische Ansätze vorgestellt, und zwar gegliedert nach der oben genannten Perspektive: von eher systemorientierten Ansätzen hin zu eher handlungsorientierten Herangehensweisen.

Marxismus und materialistische Theorien

Die Grundidee vieler soziologischer Theorien ist, dass überindividuelle gesellschaftliche Strukturen die konkreten Lebensbedingungen, das Handeln und das Denken von Menschen in starkem Maße beeinflussen. Aus Gesetzmäßigkeiten der Struktur lassen sich also Phänomene auf unteren Ebenen rekonstruieren. Eine der einflussreichsten und ältesten von dieser Prämisse ausgehenden Theorien ist der Marxismus (oder auch Materialismus). Begründet durch die Arbeiten von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) ist diese ‚Theoriefamilie‘ bis heute vielfach weiterentwickelt worden, und viele Theorien berufen sich zumindest in Teilen auf sie. Die zentrale Hypothese ist, dass die Ökonomie – also die Produktion und Verteilung von Gütern – sowohl die Struktur als auch die Dynamik einer Gesellschaft bestimmt [1], [6]. In der kapitalistischen Wirtschaftsform ist vor allem der Besitz von Produktionsmitteln das strukturierende Element. Die Besitzenden können diese verwenden, um Profit zu erzielen, während die nicht-Besitzenden ihre Arbeitskraft veräußern müssen. Da die Besitzenden (oder die Angehörigen der Kapitalistenklasse) miteinander auf Märkten konkurrieren, versuchen sie, Produktionsmittel wirtschaftlich einzusetzen, d.h. auch die Arbeitskraft der arbeitenden Klasse möglichst billig zu erwerben. Aus der Ungleichverteilung von Ressourcen und Macht entstehen so gravierende Unterschiede in den Lebensbedingungen. Diese fallen i.d.R. zu Ungunsten der arbeitenden Klasse aus, die unter Ausbeutung und Zwang leidet und mit knappen Mitteln auskommen muss. Eine weitere Annahme ist, dass nicht nur die Lebensverhältnisse der armen Klassen schlecht sind, sondern dass die Situation der Machtlosigkeit und Armut auch das Denken und Handeln prägt („das Sein bestimmt das Bewusstsein“).

Bereits Friedrich Engels betrachtete in seinen Werken die Auswirkungen kapitalistischer Wirtschafts- und Machtverhältnisse auf die Gesundheit [3]. In seinem Werk über die Situation der arbeitenden Klasse beschrieb er die desolate gesundheitliche Lage der Arbeiter und ihrer Familien im frühkapitalistischen England als eine Folge von Armut, Hunger, Rechtlosigkeit, schlechten hygienischen Verhältnissen und Arbeitsbedingungen. (Neo-)Marxistische Theorien spielen seitdem im Bereich der Medizin immer wieder eine Rolle, insbesondere, wenn es um die Erklärung der nach wie vor bestehenden sozialen Ungleichverteilung von Erkrankungs- und Sterberisiken weltweit geht (siehe Kapitel 2.6.5.) [7]. Aber auch für die Analyse des Gesundheitssystems sind diese Theorien herangezogen worden. So gibt es etwa die von Rosa Luxemburg formulierte Annahme, dass die kapitalistische Wirtschaft dazu neigt, Konkurrenz auszuweichen, indem neue Märkte erschlossen werden [8]. Diese neuen Märkte können auch im Inneren der Gesellschaft gefunden werden, indem vormals nicht ökonomisch organisierte Lebensbereiche (z.B. Medizin, Beziehungen, Sport) einer ökonomischen Ordnung unterworfen werden. Als aktuelle Beispiele können die zunehmende Ökonomisierung der Medizin oder der Trend zur Selbstvermessung und Selbstvermarktung in sozialen Medien (mit entsprechenden Folgen für Körperbilder und Gesundheitshandeln) angeführt werden.

Marxistische Theorie hat einen wichtigen Platz in den Gesellschaftstheorien, wobei ihr Entstehungskontext während der (Früh-)Industrialisierung bedacht werden muss. Ihr Verdienst liegt insbesondere in der Aufdeckung der sozial strukturierenden Wirkung ökonomischer Vorgänge. Zusätzlich anzumerken ist, dass materialistische Theorien neben ihrem wissenschaftlich-analytischen Anspruch häufig einen handlungspraktischen Anteil haben, d.h. sie rufen zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse auf – wenn auch mit in der historischen Betrachtung z.T. problematischen Ergebnissen.

Strukturtheorie und Strukturfunktionalismus

Auch wenn die Ökonomie unbestreitbar eine wichtige Rolle spielt, sind viele soziale Phänomene allein ökonomisch nicht zu erklären. Hierzu gehört die Frage, wie es großen und hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften überhaupt gelingt, dauerhaft stabil zu bleiben und sich an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen. Hier setzen Strukturtheorien an. Eine davon ist der Strukturfunktionalismus, der soziale Ordnung zu verstehen versucht, indem er 1) Annahmen darüber trifft, welche einzelnen Funktionen eine Gesellschaft erfüllen muss, damit ihre Strukturen nicht kollabieren und 2) Erklärungen anbietet, wie das Handeln der einzelnen Menschen so ausgerichtet wird, dass es im Sinne eines Erhalts der Systemordnung ausgeführt wird.

Dieser Ansatz ist stark mit dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902–1979) verknüpft, der nicht nur einen großen Einfluss auf die moderne Soziologie hat, sondern der sich auch direkt mit der Medizin beschäftigte [3], [4], [9]. Parsons geht zunächst von der Annahme aus, dass sich Gesellschaften in Subsysteme gliedern, die jeweils andere überlebenswichtige Funktionen erfüllen (funktionale Differenzierung). Er definiert vier zentrale Funktionen, die von Subsystemen erfüllt werden müssen (AGIL-Schema): Anpassung an eine dynamische Umwelt (adaptation), Zielerreichung (goal attainment) im Sinne des Findens und Durchsetzens von Zielen, die Integration und Koordination der einzelnen Subsysteme (integration) und die Strukturerhaltung (latent pattern maintenance) im Sinne der Schaffung gemeinsamer Werte und Weltanschauungen über alle Subsysteme hinweg [6]. Die zu erfüllende Funktion determiniert wiederum die innere Organisation der Subsysteme – in Analogie zum biologischen Organismus. Subsysteme haben zunächst einen hohen Abstraktionsgrad, der dann immer weiter bis hin zu einzelnen Institutionen (z.B. der Schule, dem Krankenhaus) mit spezifischen Aufgaben konkretisiert wird.

Parsons hat sich in seinen Arbeiten auch mit der modernen Medizin und ihrer gesellschaftlichen Funktion beschäftigt. Um seine Ideen hierzu in der gebotenen Kürze korrekt wiedergeben zu können, muss aber zunächst ein weiteres Konzept des Strukturfunktionalismus eingeführt werden. Da Strukturen abstrakt und ohne physische Gestalt sind, müssen die einzelnen Akteure dazu gebracht werden, stets aufs Neue im Sinne des Systemerhalts zu handeln. Millionen und Abermillionen aufeinander bezogene Einzelhandlungen ergeben dann ein System. Aus dieser Sicht ist jeder Akteur damit auch selbst der Erzeuger von Gesellschaft (eng. agency). Die Instrumente, um Handeln zu steuern, sind gesellschaftliche Normen (Verhaltenserwartungen) und Rollen (komplexere, auf eine soziale Position zugeschnittene Bündel von Normen), die im Laufe der Sozialisation im kulturellen System erlernt werden. Diese Normen und Rollen richten Handeln systemkonform aus, sie verbinden also den Menschen mit der sozialen Struktur.

Krankheiten haben nach Lesart des Strukturfunktionalismus auch eine evident soziale Dimension, da sie laut Parsons für den Erhalt der Gesellschaft dysfunktional sind, weil Kranke ihre ‚normalen‘ Rollen in wichtigen Teilsystemen (z.B. als Arbeitnehmer/-in im Wirtschaftssystem) nicht mehr wahrnehmen können [10]. Der Medizin kommen nun drei Aufgaben zu: a) die Wiederherstellung der Gesundheit und damit der sozialen Funktionsfähigkeit des Menschen, b) die Kontrolle darüber, dass der Mensch andere soziale Rollen nur so lange aussetzt, wie dies für den Behandlungsprozess notwendig ist und c) die Kontrolle darüber, dass die Ressourcen des Gesundheitssystems nicht missbraucht werden (z.B. Legitimation zu deren Nutzung durch Diagnosestellung). Die Ausrichtung des Handelns erfolgt durch Rollen, die sowohl den Ärzten als auch den Patienten vorgeben, wie sie sich zu verhalten haben. Im Falle der Patienten (Krankenrolle, vgl. Kapitel 3.2.2.) ist dies z.B. die Erwartung, dass Hilfe gesucht wird und Anweisungen der Ärzte befolgt werden.

Der Ansatz, dass Handeln in sozialen Rollen die Funktion des Subsystems widerspiegelt, in deren Kontext sie ausgeführt werden, ist in der Medizin bislang vor allem für die Analyse der Arzt-Patient-Beziehung verwendet worden (vgl. Kapitel 3.3.2. und Kapitel 4.2.). Sie kann aber auch auf andere Bereiche übertragen werden, beispielsweise auf die Betrachtung von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen wie der Risikobereitschaft im Beruf oder die Ernährung, die z.T. ebenfalls normgeleitet sind.

Symbolischer Interaktionismus und postmoderne Theorien

Die Annahme der Strukturtheorie, dass es übergeordnete, logische Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Strukturbildung gibt, die den Menschen sozusagen ‚übergestülpt‘ werden, ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Eine solche Sicht verstellt den Blick darauf, dass Menschen aktiv ihre Umwelt interpretieren und entsprechend handeln. Vertreter des symbolischen Interaktionismus wie Erving Goffman (1922–1982) oder Anselm Strauss (1916–1996) kehren sozusagen zum Menschen als dem Produzenten von Gesellschaft zurück. Diese treten nicht als bloße Vollstrecker gesellschaftlicher Normen auf, sondern handeln aktiv, begründen ihr Handeln (subjektiv) und schaffen durch dieses Handeln in Interaktion miteinander wiederum neue soziale Realitäten. Die Bedeutungen, die bestimmten Handlungsweisen oder Zuständen zugewiesen werden, sind dabei aber genuin sozial geprägt. Eine besondere Rolle kommt hierbei der Sprache zu, die über gemeinsam geteilte Verständnisse von Begriffen wie „Krankheit“ eine einheitliche Interpretation von Gegenständen ermöglicht und dadurch Interaktion harmonisiert. Ein zentraler Gedanke ist, dass diese Interpretationen nicht statisch sind, sondern sich im Laufe der Zeit verändern – und mit ihr die sozialen Realitäten. Beispielsweise hatte es im Mittelalter eine andere Bedeutung, ein „Kranker“ zu sein, als es das heute hat.

Gesundheit und Krankheit wurden in diesem Zusammenhang wiederholt als Beispiele angeführt, denn sie haben sowohl eine subjektive Komponente („Fühle ich mich krank?“) als auch eine soziale („Finden andere mich krank?“). Der Soziologe Erving Goffman beschäftigte sich beispielsweise mit dem Phänomen der Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Auffälligkeiten als „krank“ [3]. Das Verhalten dieser Menschen wird in der Interaktion als problematisch erlebt und daher als sozial abweichend, eben krank, etikettiert. Die Konsequenzen für die so Stigmatisierten sind nicht nur Abwertung und Diskriminierung in der unmittelbaren Interaktion, es wurden sogar gesellschaftliche Institutionen wie geschlossene Psychiatrien geschaffen, die den Zustand der Abweichung zementieren, indem die Stigmatisierten zu „Insassen“ werden.

Ähnliche Gedanken finden sich in verschiedenen sogenannten postmodernen Theorien. Sie gehen davon aus, dass moderne Gesellschaften plural und heterogen sind, so dass es eine Fülle an unterschiedlichen und gleichzeitig wirkenden sozialen Mechanismen gibt. Ein auch in der Medizin bekannter Vertreter dieser Theorierichtung ist Michel Foucault. Foucault hat sich unter anderem mit einem Paradox der Moderne beschäftigt, nämlich dem Umstand, dass die Menschen im Zuge der Individualisierung immer mehr Autonomie gewonnen haben, trotzdem aber das Gefühl haben, immer unfreier in ihren Entscheidungen zu sein. Foucault zeigt in der historischen Betrachtung, dass dies ein Effekt sich verändernder Ausübung von Macht ist. Im Laufe der Geschichte wurden zunehmend äußere Sanktionen, z.B. Folter oder Körperstrafen in innere Sanktionen verwandelt. D.h. der Mensch kontrolliert sich selbst, beispielsweise indem der Versuch unternommen wird, nicht vom gesellschaftlichen Mainstream abzuweichen. Erwartungen an Kontrolle erstrecken sich auch auf den Körper, der beispielsweise fit gehalten werden und Idealen sowie Normen der Leistungsgesellschaft entsprechen soll. Dennoch ist auch die direkte Ausübung von Macht nicht verschwunden, sondern lediglich subtiler institutionalisiert worden. Foucault führt auch die Medizin und Psychiatrie als Beispiele für solche Institutionen an, da sie Normen definieren (was z.B. gesund ist), Abweichungen von der Norm überwachen und notfalls mit Zwangsmaßnahmen (z.B. der Einweisung in eine Psychiatrie) auf Abweichungen reagieren (siehe [3]).

Feministische Theorie

Feministische Theorien haben zahlreiche Bezüge zu allen vorgenannten Theorien, betonen jedoch die zentrale Bedeutung des Geschlechts sowohl für Handlungen und Handlungserwartungen, als auch für die Bildung sozialer Strukturen [2]. Ein Kerngedanke, der viele der heterogenen Ansätze feministischer Theorie eint, ist die Vorstellung der sozialen Konstruktion des Geschlechts. Geschichtlich gewachsen und unterschiedlich legitimiert (z.B. mal religiös, mal biologistisch), sind spezielle Zuschreibungen von Rollen für Männer und Frauen entstanden: Eine Frau ist so und verhält sich so, ein Mann ist so und verhält sich so. Diese Zuschreibungen beruhen nur zu einem geringen Teil auf echten biologischen Unterschieden und sind häufig wertend sowie mit konkreten gesellschaftlichen Privilegien oder Zwängen verbunden. Typischerweise fällt diese Verbindung in patriarchalischen Gesellschaften zuungunsten von Frauen aus, denen auch heute noch in vielen Teilen der Welt Rechte und gleiche Chancen verwehrt werden. Beispiele dafür sind berufliche Nachteile von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, familiäre Unterordnung, fehlender Schutz vor Gewalt oder die Verweigerung von Bürgerrechten auf Bildung, Gesundheitsversorgung oder politische Partizipation.

Feministische Theorien finden aktuell in der Medizin einen starken Widerhall im Bereich der Gendermedizin (siehe Kapitel 2.6.10.). Dieser Ansatz geht davon aus, dass die vielfach ausgeprägten gesundheitlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht nur ein Ausdruck biologischer Ungleichheiten sind, sondern auch damit zusammenhängen, dass Männern und Frauen unterschiedliche Lebenschancen, Entwicklungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen zugebilligt werden. Daraus resultieren dann unterschiedliche Muster an Risikofaktoren und entsprechende gesundheitliche Vor- und Nachteile [7]. Während Männer beispielsweise häufiger riskantes Gesundheitsverhalten zeigen und damit klassische männliche Rollenbilder erfüllen (z.B. durch Neigung zu Risikosportarten, Fleischkonsum), sind Frauen häufiger durch die hohen psychischen Anforderungen einer Doppelrolle als Elternteil und Berufstätige belastet. Eine tiefere Analyse der gesellschaftlich produzierten Unterschiede kann daher helfen, Verhalten oder umweltbezogene Risiken zu verstehen und gezielt aufzubrechen.

 

2.6.1.4. Schlussbemerkung

Die dargestellten Theorien sind exemplarisch zu verstehen und herangezogen worden, um zu verdeutlichen, wie die Theoriebildung in diesem Feld vorgeht und wie sie verwendet werden kann, um medizinische Phänomene zu erklären (Zusammenfassung siehe Tabelle 1). In den folgenden Kapiteln finden sich dann zahlreiche und genauer ausgearbeitete Beispiele für die Verknüpfung von Soziologie und Medizin. Dort wird auch deutlich, dass diese Verbindung in vielen Bereichen mittlerweile zum ‚common sense‘ der modernen Medizin gehört, etwa bei der Selbstverständlichkeit, eine Familien- und Sozialanamnese durchzuführen, der Gestaltung des Gesundheitssystems, der Planung von Versorgungseinrichtungen oder ganz grundlegend beim bio-psycho-sozialen Verständnis von Gesundheit und Krankheit insgesamt.

Tabelle 1: Zusammenfassung der Theorierichtungen, ihrer Kernideen und Anwendungsbeispiele im Bereich der Medizin

Theorierichtung

Kernidee

Anwendungsbeispiele

Marxismus, Materialismus

Zentrale strukturbildende Bedeutung der Ökonomie

  • Erklärung von Armut und Benachteiligung sowie der gesundheitlichen Folgen
  • Gestaltung von Gesundheitssystemen mit universellem Zugang für alle Bevölkerungsgruppen
  • Ökonomisierungstendenzen in der Medizin

Strukturtheorien

Es lassen sich übergeordnete Prinzipien der Bildung und Stabilisierung von Gesellschaften benennen.

  • Analyse von Normen rund um die Arzt-Patienten-Beziehung
  • Analyse von Gesundheitssystemen
  • Analyse von Konflikten zwischen Subsystemen, etwa dem wirtschaftlichen System und dem Medizinsystem

Symbolischer Interaktionismus und postmoderne Theorie

Pluralität der sozialen Funktionsprinzipien in modernen Gesellschaften

  • Aufzeigen der Stigmatisierung von Erkrankungen wie HIV oder Depressionen und der Folgen für Betroffene sowie deren ärztliche Versorgung
  • Analyse der Interaktionen von Personal und Patienten in Krankenhäusern und Psychiatrien

Feministische Theorien

Gesellschaftliche Ungleichbehandlung der Geschlechter

  • Kritische Analyse der Medikalisierung weiblicher Biologie, z.B. von Schwangerschaft und Geburt
  • Gestaltung von Versorgungsstrukturen für Frauen mit häuslichen Gewalterfahrungen
  • Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen

 

 


References

[1] Richter, Rudolf. Soziologische Paradigmen – eine Einführung in klassische und moderne Konzepte. 2nd ed. Wien: Facultas; 2016. Available from: http://www.utb-studi-e-book.de/9783838545950
[2] Treibel, Annette. Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart (Einführungskurs Soziologie 3). 7th rev. ed. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden; 2006. 317 p. DOI: 10.1007/978-3-531-90039-1
[3] Germov, John, editor. Second opinion: an introduction to health sociology. 5th ed. South Melbourne: Oxford University Press; 2014. 530 p.
[4] Cockerham, William C. Medical Sociology. 13th ed. New York: Routledge; 2015. 448p. DOI: 10.4324/9781315663562
[5] Pries, Ludger. Soziologie. Schlüsselbegriffe – Herangehensweisen – Perspektiven. 3rd rev. ed. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2017. 289 p. urn:nbn:de:101:1-2017101014102
[6] Rosa H; Strecker D; Kottmann A. Soziologische Theorien. Konstanz: UVK Verlagsgemeinschaft; 2007. 305 p.
[7] Barry, Anne-Marie; Yuill, Chris. Understanding the sociology of health. An introduction. 3rd ed. Los Angeles : SAGE; 2012. 359 p.
[8] Bittlingmayer, UH. Strukturorientierte Perspektiven auf Gesundheit und Krankheit. In: Richter, Matthias; Hurrelmann, Klaus, editors. Soziologie von Gesundheit und Krankheit (Lehrbuch). 1st ed. Wiesbaden: Springer VS; 2016. p. 23–40. DOI: 10.1007/978-3-658-11010-9_2
[9] Richter, Matthias; Hurrelmann, Klaus, editors. Soziologie von Gesundheit und Krankheit. 1st ed. Wiesbaden: Springer VS (Lehrbuch); 2016. DOI: 10.1007/978-3-658-11010-9
[10] Ebert, M. Talcott Parsons – seine theoretischen Instrumente in der medizinsoziologischen Analyse der Arzt-Patienten-Beziehung [dissertation]. Aachen: Shaker; 2003. 150 p.