Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


5.4.2. Psychoonkologie

 Ute Berndt 1


1 Klinik für Gynäkologie, Universitätsklinikum Halle (Saale), Halle (Saale), Germany

Eine Krebsdiagnose wird von Patienten und ihren Angehörigen als ein stark belastender Lebenseinschnitt wahrgenommen. Sie löst bei den Betroffenen existenzielle Ängste aus. Die Krankheit wird meist mit einem negativen Verlauf und daher mit Leiden, Siechtum und Tod assoziiert. Andererseits konnte das relative 5-Jahres-Überleben bei Krebs aufgrund von Früherkennung und modernen Behandlungsoptionen in den letzten Jahrzehnten in Deutschland auf 66% bei Frauen und 61% bei Männern verbessert werden [1]. Die steigende Zahl von Langzeitüberlebenden führte zu einer zunehmenden Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung der Erkrankung. War diese bis in die 1970er-Jahre noch stark tabuisiert, sodass eine Großzahl der Ärzte meinte, ‚gnädige Lügen‘ seien im Interesse der Patienten, hat sich in den letzten Jahrzehnten ein deutliches Umdenken durchgesetzt. Es besteht nicht nur eine Aufklärungspflicht, sondern Patienten haben zudem das Recht, an Therapieentscheidungen mitzuwirken. Durch die modernen Medien sind Patienten heute oft erstaunlich gut über ihre Erkrankung informiert. Auch wird mit dem Thema Krankheitsbewältigung zunehmend offen umgegangen, was sich an einer Welle von Patientenliteratur der letzten zwei Jahrzehnte zum Thema Krankheitserfahrungen und Krankheitsverarbeitung zeigt.

5.4.2.1. Die Entwicklung der Psychoonkologie und deren Themenschwerpunkte

Psychoonkologie als relativ junge Wissenschaft entwickelte sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Als Pionierin gilt Jimmie C. Holland, die 1984 die International Psycho-Oncology Society (IPOS) gründete. Psychoonkologie beschäftigt sich vor allem mit drei Aspekten der Erkrankung Krebs: den psychosomatischen, den somatopsychischen sowie den psychosozialen Auswirkungen.

Schon in der Antike gab es im Rahmen der ‚Lehre der vier Säfte‘ Vorstellungen zu psychosomatischen Zusammenhängen zwischen Depression (schwarze Galle) und Krebs. In den 1980er-Jahren gab es eine Reihe von Studien zum Thema ‚Krebspersönlichkeit‘, dem sogenannten Typus Carcinomatosus, eine durch Neigung zu Depression und Ärgerunterdrückung charakterisierte Persönlichkeit. Ein eindeutiger Zusammenhang konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Psychosomatische Aspekte der Krebsentstehung, insbesondere Stress und Depressionen, werden jedoch von Patienten häufig als Ursache ihrer Erkrankung angenommen. Zweifellos ist mit einem erhöhten Krankheits- und Sterberisiko zu rechnen, wenn seelische Stressoren einerseits zu gesundheitlichem Risikoverhalten führen, wie z.B. Alkohol-, Nikotinmissbrauch, Bewegungsmangel oder Übergewicht, und andererseits Angebote zur Früherkennung von Krebs ungenutzt bleiben. Auch gibt es eine Reihe von psychoneuroimmunologischen Studien, die einen negativen Einfluss von chronischem Stress auf das Immunsystem belegen. Dies könnte vor allem bei Krebserkrankungen eine Rolle spielen, die einen engen Zusammenhang zum Immunsystem aufweisen. Die Studienlage ist hierzu jedoch uneinheitlich. Krebs wird in der Literatur in erster Linie als multifaktoriell verursachte Erkrankung beschrieben, sodass der Nachweis einer maßgeblich psychosomatischen Genese sehr schwer möglich ist. Weder Persönlichkeitsmerkmale noch Stress oder Depressivität konnten als wesentlich krebsverursachende Faktoren eindeutig belegt werden. Allerdings ließ sich ein Zusammenhang zwischen niedrigem sozioökonomischem Status und Krebs nachweisen, der sich jedoch nicht bei allen Tumorentitäten gleichermaßen zeigt.

Unter somatopsychischen Zusammenhängen sind psychische Folgen der Krebserkrankung und -behandlung zu verstehen wie emotionaler Distress, Angst, Depression, Anpassungsstörung, Fatigue, kognitive Leistungsminderungen u.a. Die Prävalenz von krankheitswertigen psychischen Störungen wurde in einer großen Studie [2] mit über 4.000 Patienten in einer 4-Wochen-Prävalenz mit knapp 32% ermittelt. Bezieht man Patienten mit subsyndromalen Belastungen wie z.B. gedrückter Stimmung oder Ängsten mit ein, so erhöht sich die Prävalenz auf über 50%. Bei Patienten mit subsyndromalen Störungen rechtfertigen Art und Ausmaß der Symptomatik noch keine Zuordnung zu einer Diagnose nach der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD); diese Patienten sollten dennoch als belastet wahrgenommen und entsprechend psychoonkologisch begleitet werden.

Unter psychosozialen Belastungen werden Auswirkungen onkologischer Erkrankungen auf das gesamte soziale Umfeld der Patienten verstanden, wie z.B. die Rolle in der Familie und die Versorgung von Familienangehörigen, Aspekte des beruflichen Wiedereinstiegs und der finanziellen Sicherung sowie Auswirkungen auf die soziale Identität und den Erhalt von Autonomie.

5.4.2.2. Psychoonkologie im Rahmen zertifizierter Zentren

Kliniken, die ein zertifiziertes Organzentrum oder ein onkologisches Zentrum nach den Richtlinien der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. unterhalten, müssen eine qualifizierte psychoonkologische Versorgung nachweisen. Im Weiteren sind Psychoonkologen auch in psychosozialen Krebsberatungsstellen und in Rehakliniken anzutreffen. Zudem gibt es niedergelassene Psychologische Psychotherapeuten mit psychoonkologischer Zusatzqualifikation, die einen Teil der ambulanten Versorgung übernehmen. Der derzeitige Bedarf an ambulanter Betreuung von Karzinompatienten übersteigt das bestehende Angebot jedoch erheblich. Eine mehrmonatige Wartezeit für Patienten mit psychoemotionalen Belastungen oder gar einer psychischen Komorbidität und mit ggf. geringer Lebenserwartung ist nicht hinnehmbar. Chronisch erkrankte Patienten mit häufigem Wechsel zwischen stationärer und ambulanter Versorgung sollten daher einen festen Ansprechpartner, meist in der Akutklinik, haben.

5.4.2.3. Screening in der Psychoonkologie

Die psychoonkologische Versorgung im Akutkrankenhaus umfasst ein Belastungsscreening und orientiert sich an der S3-Leitlinie ‚Psychoonkologische Diagnostik‘ der Arbeitsgemeinschaft für Psychoonkologie der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. Bekannte Screeninginstrumente sind z.B. der Fragebogen zur Belastung von Krebspatienten FBK-R 10 und FBK-R 23, die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D) zur Erfassung von Angst und Depression bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen oder das Distress-Thermometer. Des Weiteren können auch strukturierte Interviewverfahren zum Einsatz kommen, z.B. die psychoonkologische Basisdokumentation (PO-BADO). Patienten, die im Screening über dem Grenzwert liegen, sollten auf jeden Fall ein psychoonkologisches Betreuungsangebot erhalten. Patienten mit unauffälligem Screeningwert können dennoch ein niederschwelliges Informationsgespräch in Anspruch nehmen. Seelische Belastungen können nicht nur nach Diagnosemitteilung, sondern zu jedem weiteren Zeitpunkt auftreten. Patienten, die zu Beginn der Erkrankung starke Verdrängungsmechanismen aufweisen, erleben psychische Belastungen häufig erst mit der Therapie, die zu einem stärkeren Krankheitsgefühl oder auch einer körperlichen Veränderung (wie Haarverlust, Übelkeit, Fatigue, ggf. auch Amputationen u.a.) führen kann. Auch nach Abschluss der onkologischen Therapie kann weiterhin ein psychoonkologischer Betreuungsbedarf bestehen, z.B. bei Patienten mit noch nicht abgeschlossener Krankheitsverarbeitung oder Rezidivängsten.

5.4.2.4. Besonderheiten des Settings der Akutklinik

Psychoonkologen in Akutkliniken arbeiten meist im Rahmen von Konsiliar- oder Liaisondiensten. Psychoonkologische Diagnostik und Interventionen müssen in den Grenzen der Gegebenheiten der Akutklinik erfolgen. Dazu gehören:

  • häufig eine relativ kurze Liegedauer,
  • Einschränkungen der Verfügbarkeit der Patienten durch wenig vorhersehbare Abwesenheit zur medizinischen Diagnostik oder Behandlung,
  • Einschränkungen im Datenschutz  und der Intimsphäre bei immobilen Patienten, die in Mehrbettzimmern liegen,
  • Einschränkungen der Kommunikationsfähigkeit durch Tracheostoma, Atemnot, Vigilanzminderung u.a.
 

5.4.2.5. Therapieinhalte und Ziele

Psychoonkologische Therapieziele sind u.a.:

  • Bewältigung des Schocks der Diagnose
  • Umgang mit Krisen
  • Akzeptanz der Erkrankung
  • Reduktion von körperlichen Symptomen (Schmerz, Übelkeit, Schlafstörungen etc.)
  • Reduzierung von Ängsten und Depression
  • Förderung der Arzt-Patient-Kommunikation
  • Förderung der Therapieadhärenz
  • Unterstützung bei der Entwicklung individueller Copingstrategien
  • Verbesserung der Lebensqualität

u.v.a.m.


Dazu kommen beispielsweise folgende Interventionen häufig zum Einsatz:

  • niederschwellige supportive Gespräche
  • Psychoedukation und Beratung
  • Methoden zur Verhaltensmodifikation
  • Tiefenentspannung und Gelenkte Imagination
  • psychotherapeutische Einzel- oder Gruppengespräche (letztere im Setting der Akutklinik eher selten realisierbar)
  • künstlerische Therapien

u.a.

5.4.2.6. Psychoonkologischer Betreuungsbedarf onkologischer Patienten

Betreuungsbedarf und Betreuungsbedürfnis sind jedoch nicht immer kongruent. Baker-Glenn und Kollegen [3] ermittelten anhand einer Stichprobe von 128 Patienten, dass sich unter den psychisch belasteten Patienten nur 36% der Betroffenen psychoonkologische Hilfe wünschten. In anderen Studien wurden Faktoren untersucht, welche die Inanspruchnahme von psychoonkologischen Interventionen unterstützen. Diese ist wahrscheinlicher, wenn

  • die Patienten jünger sind,
  • sie ein höheres Bildungsniveau haben,
  • sie berufstätig sind,
  • das Krankheitsstadium fortgeschritten ist,
  • bei ihnen eine höhere psychoemotionale Belastung vorliegt (insbesondere Angst und Depression),
  • sie einen eher internalen Attributionsstil sowie ein geringeres Kohärenzgefühl zeigen,
  • sie aus Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern kommen.

5.4.2.7. Nutzen von psychoonkologischen Interventionen

Die Effekte psychoonkologischer Interventionen auf Tumorpatienten sind in verschiedenen Studien vor allem unter zwei Gesichtspunkten untersucht worden: zum einen hinsichtlich der Wirksamkeit auf die psychische Situation der Patienten und somit auf deren Lebensqualität, zum anderen im Hinblick auf das Gesamtüberleben.

Hierzu wurden ein Review und eine Metaanalyse durchgeführt [4], um die Evidenz der Effekte psychoonkologischer Interventionen zu untersuchen. Ermittelt wurden signifikante kleine bis mittlere Effekte für Einzel- und Gruppenpsychotherapie sowie Psychoedukation und eher kurzfristige Effekte durch Tiefenentspannung. Insgesamt zeigten längere Interventionen und Patienten mit stärkeren Belastungen einen größeren Benefit.

Inwieweit Copingstrategien oder psychoonkologische Interventionen dafür geeignet sind, lebensverlängernd zu wirken, ist nach wie vor umstritten. In Bezug auf einen möglichen Zusammenhang von Krankheitsverarbeitung und Überleben wurde in einigen Studien ein positiver Einfluss des sogenannten fighting spirit, also einer kämpferischen Krankheitsverarbeitung, und ein negativer hinsichtlich von Hilf- und Hoffnungslosigkeit gefunden. Andere Studien ermittelten keinen Einfluss von Copingstrategien auf das Wiedererkranken und das Überleben. Es verdichten sich jedoch Hinweise, dass Depression eher einen ungünstigen Einfluss auf das Überleben hat, wobei chronische Depression im Zusammenhang steht mit einer Dysregulation von Cortisol sowie inflammatorischen Prozessen und somit als Prädiktor für eine schlechtere Prognose bei Krebspatienten.

Unwahrscheinlich ist eine Auswirkung psychoonkologischer Interventionen auf das Überleben. Zwar wurden in einigen älteren Studien Zusammenhänge zu einem längeren Überleben gefunden, welche jedoch in späteren Studien nicht repliziert werden konnten. In der Literatur wird eine Vielzahl von methodischen Problemen dieser Studien beschrieben, wie z.B. eine unterschiedliche Tumorbiologie, verschiedene Behandlungsformen, fehlende Randomisierung, fehlende Verblindung, schwer zu kontrollierende Störfaktoren u.a. Inwieweit in Zukunft psychoneuroimmunologische Forschungsansätze neue Erkenntnisse bringen, bleibt abzuwarten.


References

[1] Barnes B, Kraywinkel K, Nowossadeck E, Schönfeld I, Starker A, Wienecke A, et al. Bericht zum Krebsgeschehen in Deutschland 2016. Berlin: Robert Koch-Institut; 2016. 269 p. DOI: 10.17886/rkipubl-2016-014
[2] Mehnert A, Koch U, editors. Handbuch Psychoonokologie. Göttingen: Hogrefe; 2016.
[3] Baker-Glenn EA, Park B, Granger L, Symonds P, Mitchell AJ. Desire for psychological support in cancer patients with depression or distress: validation of a simple help question. Psychooncology. 2011 May;20(5):525-31. DOI: 10.1002/pon.1759
[4] Faller H, Schuler M, Richard M, Heckl U, Weis J, Küffner R. Effects of psycho-oncologic interventions on emotional distress and quality of life in adult patients with cancer: systematic review and meta-analysis. J Clin Oncol. 2013 Feb 20;31(6):782-93. DOI: 10.1200/JCO.2011.40.8922