Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


3.3.1. Ärztliche Berufstätigkeit

 Antje Dresen 1
Walter Baumann 2


1 Universität Köln / Uniklinik Köln, IMVR, Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft, Köln, Germany
2 Wissenschaftliches Institut der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen GmbH (WINHO), Köln, Deutschland

3.3.1.1. Merkmale der ärztlichen Profession

Der Beruf des Arztes gehört zu den Dienstleistungsberufen. Dabei hat sich diese Berufsgruppe in verschiedenster Hinsicht professionalisiert. Der Arztberuf weist als Profession besondere Merkmale auf. Dazu gehört erstens die Erlangung von Expertenwissen, zweitens die berufliche Autonomie mit einer monopolartigen Stellung des Leistungsangebots und drittens der Zusammenschluss zur beruflichen Interessenvertretung [1]:

In erster Linie gewinnt ein Arzt im Verlaufe seiner akademischen Aus- und Fortbildung wissenschaftliche Erkenntnisse, sammelt Erfahrungswissen und häuft so berufsspezifisches Expertenwissen an. Er hat berufsspezifische Kompetenzen, die er in einem klar definierten Aufgabenbereich als personenbezogene Dienstleistung einbringt. Die Berufszulassung ist dabei staatlich geregelt. Die staatliche Approbation ist Voraussetzung für die ärztliche Berufsausübung. Nach einer gemeinsamen Ausbildung für alle kann sich ein Arzt in verschiedenen Fächern wie Kardiologie, Arbeitsmedizin (Betriebsmedizin), Frauenheilkunde und Geburtshilfe (Gynäkologie), Kinder- und Jugendmedizin und/oder Psychiatrie und Psychotherapie spezialisieren und nach meist sechs Jahren Facharzt-Ausbildung den Facharzt in diesem Fachgebiet erwerben. Zugleich kann innerhalb der einzelnen Facharzt-Spezialisierung oft auch eine Zusatzqualifikation erworben werden, z.B. in Unfallchirurgie, Geriatrie, Intensivmedizin etc. [1], [2].

Ein weiteres Merkmal der ärztlichen Profession ist die berufliche Autonomie. Wesentlich ist dabei, dass die Berufsgruppe der Ärzte selbst bestimmt, was akzeptable Praktiken der Berufsausübung sind. So kontrollieren Ärzte den Inhalt ihrer eigenen Arbeit. Ärztliche Berufsgerichte sind zudem für die Eigenkontrolle ärztlicher Tätigkeiten verantwortlich. Sie ahnden Verstöße gegen die ärztlichen Professionsregeln [3], [4].

Die berufliche Interessenvertretung für Ärzte erfolgt über die Ärztekammer als „Standesorganisation“. Diese gesetzlich verankerte Berufsvertretung regelt mit staatlicher Legitimation relativ autonom die ärztliche Fort- und Weiterbildung sowie die Schweige- und Aufklärungspflicht, überwacht die ärztlichen Berufspflichten und wirkt politisch im Gesundheitswesen mit. Jeder Arzt gehört einer Ärztekammer an. Die Ärztekammern der Länder sind auf Bundesebene dann wiederum als Bundesärztekammer (BÄK) zusammengeschlossen [1], [2].

Kassenärztlich tätige Ärzte, also Ärzte, die Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung ambulant behandeln, gehören neben der Ärztekammer auch der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) an. Mit diesen rechnen sie ihre getätigten Leistungen ab. Die KVs sind wie die Ärztekammern auf Länderebene angesiedelt, mit Ausnahme von Nordrhein-Westfalen, das in die KV Nordrhein und die KV Westfalen-Lippe unterteilt ist. Der Zusammenschluss der KVs ist auf Bundesebene die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Die KVs stellen – auf der Basis des Sicherstellungsauftrags nach dem fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) – die ambulante medizinische Versorgung der Sozialversicherten sicher, schließen Verträge mit den Krankenkassen, verteilen die Gesamtvergütung unter den Kassenärzten und prüfen die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung [1]. Sowohl die Ärztekammer als auch die Kassenärztliche Vereinigung sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie haben öffentliche Aufgaben, die ihr gesetzlich bzw. satzungsmäßig zugewiesen worden sind und unterliegen der staatlichen Aufsicht.

Über diese klassischen Merkmale einer Profession hinaus zeichnet sich der Arztberuf durch eine spezifische ärztliche Berufsethik aus. Mit Verweis auf den Hippokratischen Eid um 400 v.Chr. haben sich Ärzte allgemeine Handlungsnormen gegeben. Die damalige Schwurformel von Hippokrates als Begründer der wissenschaftlichen Medizin wirkt beispielsweise mit Blick auf die Wiederherstellung der Gesundheit und die Schweigepflicht bis heute nach. Die modernisierte Fassung ist das Genfer Ärztegelöbnis von 1948, welches die normative Richtschnur für das gegenwärtige ärztliche Handeln vorgibt. Dazu zählen immer noch etwa die ärztliche Schweigepflicht, die Wahrung der menschlichen Würde und Rechte, die Fokussierung auf die Gesundheit und das Wohlergehen des Patienten unabhängig von dessen Herkunft, Glaube, ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung etc. Bei fachlichen oder persönlichen Verstößen gegen diese Berufsethik drohen Sanktionen. Diese können bis zum Entzug der Approbation gehen [2].

Die Erlangung von Expertenwissen und beruflicher Autonomie sowie die Bildung von beruflichen Interessenvertretungen sind Merkmale, die den Arztberuf als Profession kennzeichnen.

3.3.1.2. Rahmenbedingungen und Herausforderungen ärztlichen Handelns

Wenn Ärzte beruflich autonome Entscheidungen treffen, so wirken sie damit weit in die Gesellschaft hinein. Diagnosen etwa erfüllen eine soziale Funktion. Durch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wird der erkrankte Patient von den an einen Gesunden gerichteten beruflichen Rollenerwartungen entlastet. Mit einer vom Arzt attestierten Diagnose erwirbt er außerdem einen Anspruch auf Versicherungsleistungen. Und der Arzt entscheidet mit seiner Diagnose über die Zuteilung volkswirtschaftlicher Ausgaben. Weiterhin sind Ärzte in ihrer Berufsrolle gesellschaftlich kontrollierend tätig, z.B. beim medizinischen Dienst der Krankenkassen oder bei der Beurteilung der Rehabilitation von längerfristig Erwerbsunfähigen.

Eine weitere Besonderheit im ärztlichen Wirken ist die zunehmende Ausdifferenzierung des Wissens und die Spezialisierungen des Arztberufs. Diese kommen den Patienten einerseits umfangreich zugute. Von der Befunderhebung bis zur Diagnose und Therapie haben das spezialisierte medizinische Wissen und seine Anwendung für große medizinische Fortschritte gesorgt. Mit Spezialwissen ist es oftmals erst möglich geworden, bestimmte Symptome oder Auffälligkeiten einordnen zu können und den Patienten spezifisch und bestmöglich zu versorgen. Andererseits sind mit dieser Spezialisierung besondere Herausforderungen verbunden. Spezialdiagnostik und -behandlungen sind in der Regel kostenträchtiger als allgemeine Diagnostik. Eine weitere Problematik der Spezialisierung besteht darin, dass der Patient oft nur auf seine Krankheit oder Symptomatik reduziert wird, ohne ihn ganzheitlich, d.h. umfangreich als biopsychosoziales Wesen, wahrzunehmen [2]. Zugleich ist die Spezialisierung und Differenzierung der ärztlichen Fachkompetenzen immer mehr ein Grund für potentielle Konflikte zwischen den Fachärzten, wenn es darum geht, welche Fachdisziplin für welche Krankheit zuständig ist und die finanzielle Abrechnung übernehmen darf.

Vorrangig geprägt ist der ärztliche Beruf nach wie vor durch die Individualmedizin. Diese verweist im Besonderen auf die Verantwortung für den Einzelnen. Daran schließt sich die sozialmedizinische Dimension ärztlichen Handelns mit ihrer Bezugnahme auf gesundheitliche Fragen von größeren Kollektiven und einer Gesellschaft insgesamt an. Dieser Kontextbezug etwa mit Blick auf soziale Schichtzugehörigkeiten und strukturelle Merkmale des Gesundheitswesens ist im ärztlichen Alltag vielfach jedoch nur sekundär präsent.

Ärztliches Handeln wirkt folgenreich in das Gesundheitssystem und die Gesellschaft. Die zunehmende Spezialisierung birgt Chancen und Risiken.

 3.3.1.3. Ärztliche Versorgung im Wandel der Zeit

Historisch betrachtet hat sich die gegenwärtige ärztliche Berufstätigkeit vor allem aus der Geschichte des Krankenhauses entwickelt. Im 18. Jahrhundert kamen die ersten modernen Krankenhäuser auf, die damals insbesondere Versorgungsstätten für die Unterschicht waren. Der Versorgungs- und Betreuungsauftrag der sogenannten Spitäler wie Militärkrankenhäuser und Armenhospitäler spiegelte sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Arzt-Patient-Beziehung wider, welche durch autoritäre Über-/Unterordnung gekennzeichnet war. Diese bedeutete für die Patienten oftmals eine beinahe totale physische und psychische Abhängigkeit. Der Patient wurde als Anhang des Betriebes begriffen, in dem der Arzt mit naturwissenschaftlichen Methoden den kranken Körper bearbeitet – nicht selten verbunden mit lang andauernden Aufenthalten, Isolierungen und hoher Sterblichkeit. Wer es sich leisten konnte, rief deshalb den Arzt zu sich nach Hause. Die Klientel niedergelassener Ärzte rekrutierte sich vorwiegend aus der sozialen Oberschicht [4].

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und der „Geburt der Klinik“ [5], womit hauptsächlich das Entstehen der universitären Lehrkrankenhäuser gemeint ist, veränderte sich der Blickwinkel der klinisch tätigen Ärzte. Fortan trat die Heilung des einzelnen Kranken zurück hinter die kollektive Beherrschung von Krankheiten. Diagnosen, Klassifikationen und Therapien entwickelten sich weiter und mithin die Rolle des Arztes in seiner wissenden und machtvollen Position. Das Berufsprestige der Ärzteschaft stieg gerade bei den im Krankenhaus tätigen Ärzten an, weil Kliniken fortan als eigentliche Zentren medizinischen Fortschritts galten. Aufgrund der damit einhergehenden reduzierten Sterblichkeit, den vermehrten Heilungsmöglichkeiten und kürzeren Therapiezeiten wandelte sich der aufkommende Organisationstyp des Krankenhauses zu einem Heilungszentrum, dem sich der Patient unterschiedlicher sozialer Herkunft für absehbare Zeit und mit steigenden Überlebenschancen anvertrauen konnte [4].

Heute gilt die ärztliche Tätigkeit in freier Praxis als idealtypisches Gegenmodell zu den hierarchisch strukturierten Betriebsorganisationen von Krankenhäusern mit oftmals eng begrenzten Freiräumen – im Besonderen innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung. Dieser Gegensatz kann die Karriere- und Berufsausübungsentscheidungen von Ärzten mitbestimmen.[1]

Die ärztliche Arbeit ist weitgehend durch medizinisch-technische Fortschritte geprägt und stellt sich als technisch unterstützter Prozess dar. Die moderne ärztliche Tätigkeit kommt nicht ohne umfangreiche, industriell hergestellte Leistungen und Produkte aus, die in die Arbeit am einzelnen Patienten eingehen. Vielfach ist ärztliche Arbeit Maschinenarbeit, nicht nur in Chirurgie, Strahlentherapie oder Bildgebung. Auch in der modernen Biotechnologie etwa bekommt die Ärzteschaft technische Unterstützung. Technische Systeme geben so oftmals die Art und Weise der Leistungserbringung vor.

Die Technisierung der ärztlichen Arbeit hat die Berufsausübung in mehrfacher Hinsicht verändert. Insgesamt sinkt die Bedeutung der Face-to-Face-Kommunikation. Gesundheitsarbeit ist heute immer weniger eine gesprächsbasierte personenbezogene Dienstleistung, vielmehr nehmen ihre Sachleistungsmerkmale zu [7]. Das bedeutet, dass ärztliche Versorgung nicht mehr nur ein ganz individuelles Resultat erzeugt, das nur der Patient, der Genesende oder seine Angehörigen zu beurteilen vermögen. Der Arzt produziert durch die Technisierung und Digitalisierung des Berufs zunehmend objektive Daten und Datenspuren, die der nachgehenden Beurteilung zugänglich sind. Der technische Fortschritt hat die ärztliche Arbeit auf diese Weise beobachtbar, überprüfbar und kalkulierbar gemacht.

Informierte Patienten, Patientenorganisationen, die wissenschaftliche Öffentlichkeit und nicht zuletzt die Versorgungsforschung – sie alle nutzen die Möglichkeiten zur kritischen Beobachtung des ärztlichen Handelns. Der dadurch steigende Rechtfertigungsdruck führt zu einer Vielzahl an Absicherungsmaßnahmen wie z.B. Tumorboards, Ethik-Kommissionen, Zweitmeinungen etc. [8]. Für den behandelnden Arzt steigt damit die Zahl der Akteure, die in seinem längst nicht mehr exklusiven Verhältnis zum einzelnen Patienten mitreden und mit denen er sich explizit oder implizit abstimmen muss.

Die ärztliche Versorgung hat sich mit der Entwicklung des Krankenhauses, dem Fortschreiten der medizinischen Erkenntnisse sowie den technischen und kommunikativen Möglichkeiten vor allem ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in ein komplexes Handlungsfeld gewandelt.

3.3.1.4. Die Ärzteschaft und ihre Professionalisierung als Standespolitik

In der westlichen Welt hat die Ärzteschaft über Jahrhunderte eine beispiellose Karriere zur zentralen Institution gesundheitsbezogenen Handelns und damit der Krankenversorgung vollzogen. Sie konnte andere Gesundheitsdienstleister verbannen oder in untergeordnete Stellungen zurückdrängen. Der ärztliche Aufstieg wurde zum einen durch die Institutionen der National- und später der Wohlfahrtsstaaten mit ihrer Einbindung der Ärzteschaft in die sozialen Leistungssysteme forciert. Zum anderen hat die Ärzteschaft vor allem Standespolitik betrieben und sich als Anbieter von professionellen Dienstleistungen etabliert [9], [10], [11]. In diesem Kontext gab es ab Mitte des 19. Jahrhunderts wichtige Marker der Professionalisierung:

 
  • 1852 wurden die Standards der ärztlichen Ausbildung festgelegt und die Berufsbezeichnung „Arzt“ gesetzlich geschützt.
  • 1873 wurde der Dachverband deutscher Ärzte gegründet.
  • Im Jahre 1883 wurde von dem damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck das „Gesetz betreffend der Krankenversicherung der Arbeiter“ erlassen. Fortan waren Industriearbeiter und Beschäftigte in Handwerks- und Gewerbebetrieben krankenversicherungspflichtig. Dies hatte zur Folge, dass die niedergelassenen Ärzte zunehmend in die Abhängigkeit der Krankenkassen gerieten. Diese gestalteten die Arbeitsverträge, Gehälter, Arbeitszeiten und kontrollierten berufsbezogene Vorschriften.
  • Die Gründung des „Hartmannbundes“ um 1900 war eine berufspolitische Reaktion auf diese Situation. Ziel war es, standespolitische Forderungen wieder besser durchsetzen zu können [4].
  • Nach den politisch und wirtschaftlich instabilen Zeiten der Weimarer Republik, in der auch Ärzte oftmals mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, stellte die nationalsozialistische Machtergreifung eine Zäsur in der Entwicklung des akademischen Berufsstandes der Ärzte dar. 1933 wurden alle jüdischen und kommunistischen Kassenärzte und -zahnärzte mit einem Berufsverbot belegt. Staatskommissare ersetzten die Selbstverwaltungsorgane der Ärzteschaft. Zwei- bis dreitausend Ärzte emigrierten zwangsweise.
  • Im Jahr 1934 war bereits ca. ein Drittel der deutschen Ärzte Mitglieder im nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund. Eine fanatische Minderheit deutscher Ärzte beteiligte sich an den Massenvernichtungen psychisch Kranker, politischer Dissidenten und jüdischer Mitbürger.
  • Eine Reichsärztekammer wurde eingesetzt, die eine Reichsärzteordnung im Jahre 1935 verabschiedete und Ärzte abhängig von parteipolitischen und staatlichen Instanzen machte. Der Hartmannbund wurde aufgelöst [4].
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Landesärztekammern und kassenärztlichen Vereinigungen gegründet.
  • Mit dem dazugehörigen Erlass des Kassenarztrechts von 1955 ist den niedergelassenen Ärzten das Monopol der ambulanten Versorgung zugewiesen worden. Kassenzulassung und die Kontrolle der Wirtschaftlichkeit hingegen wurden den kassenärztlichen Vereinigungen übertragen.
  • Die im Jahre 1961 verabschiedete Bundesärzteordnung sowie die seit 1965 installierte Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ) werden als Höhepunkte der bis dato 100-jährigen Professionalisierungsgeschichte gedeutet [4].
Die Ärzteschaft hat in ihrer Professionalisierungsgeschichte vor allem Standespolitik betrieben. Nach ihrer staatlichen Vereinnahmung in der NS-Zeit wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Landesärztekammern und kassenärztliche Vereinigungen gegründet, die dem ärztlichen Wirken bis heute eine institutionelle Grundlage verschaffen.

3.3.1.5. Tendenzen der Deprofessionalisierung

Die im Selbstverständnis verankerte und zugleich zugewiesene Einzigartigkeit des ärztlichen Berufsbildes hat sich im Laufe der Zeit in verschiedener Hinsicht nachhaltig verändert. Während der ärztliche Professionalisierungsprozess im 19. Jahrhundert einsetzte und eine berufliche Autonomie ermöglichte, zeichnet sich heute eine Entwicklungslinie ab, die als Deprofessionalisierung gedeutet wird [4]. Dieser Prozess bezieht sich im hier verstandenen Sinne vor allem auf die abnehmende Exklusivität des Berufs, die eingeschränkte ärztliche Kontrolle und die begrenzte Autonomie im ärztlichen Handeln (siehe auch Kapitel 3.3.2. Abschnitt 3.3.3.2.):

Die Arbeitsteilung zwischen den Ärzten und anderen Berufsgruppen sowie die ökonomische Abhängigkeit der Ärzte nehmen über die Zeit hinweg tendenziell zu. Medizinisch-ethische Fragestellungen (z.B. zur Organspende oder Sterbehilfe), die ehemals der Ärzteschaft und ihrem Fachpublikum vorbehalten waren, sind nun vermehrt Gegenstand öffentlich-medial geführter Debatten. Hinzu kommt, dass die Patientenpartizipation immer mehr an Bedeutung gewinnt und „partnerschaftliche Arzt-Patient-Modelle“ (siehe auch Kapitel 4.2. und Kapitel 4.3.) zunehmend zur Norm werden. Dies alles relativiert die Exklusivität des ärztlichen Berufsstandes [2].

Darüber hinaus ist die ärztliche Berufsausübung vor allem durch die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Krankheiten kontrollierbar geworden. Der „Halbgott in Weiß“ verliert an Gewicht im kooperativen und transparenten Prozess der Versorgung. Die ärztliche Tätigkeit ist eine arbeitsteilige Leistung in betrieblichen Organisationen. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Einbindung bleiben nicht ohne Einfluss auf die ärztliche Selbstwahrnehmung. Die Beziehung zum Patienten orientiert sich zusehends an von außen gesetzten Regeln, Leitlinien oder Behandlungsprogrammen und ist dadurch immer weniger autonom gestaltbar [12].

Dies verweist unmittelbar auf die Einschränkung ärztlicher Eigenkontrolle, die zu den zentralen Bestimmungsmomenten einer Profession gehört. Die eigene Kontrolle über Inhalte und Organisation beruflicher Arbeit weicht allmählich staatlichen, gesetzgeberischen und bürokratischen Reglementierungen [4].

Mit der Ausdifferenzierung der medizinischen Profession in verschiedene Facharzt- und Gebietsarztgruppen nehmen die Partikularinteressen zu. Dies macht es zusätzlich schwierig, einen breiten Konsens zur Gewährung professioneller Autonomie zu finden. Zudem weicht die Konkurrenz nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe die Monopolstellung des Arztes zusätzlich auf [4].

Auch der Einfluss des sogenannten Konsumerismus trägt zur Deprofessionalisierung der Ärzteschaft bei. Patientenbewegungen und Selbsthilfegruppen erstarken und haben sich so zu einer weiteren Säule des Gesundheitswesens entwickelt. Im Rahmen der zunehmenden Bürger- und Patientenorientierung stehen etwa Konsumentenschutz, Patientenvertretungen in Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens und patientenbezogene Outcomes als Ergebnisparameter immer mehr im Zentrum des Geschehens [4]. Das „blinde“ Vertrauen in die ärztliche Kunst weicht letztlich einer kritischen Beobachtung ärztlicher Leistungserbringung durch die Öffentlichkeit, die Kostenträger und/oder die Patienten.

Auf der anderen Seite scheinen gerade die Fortschritte der evidenzbasierten Medizin der Professionalisierung wieder Auftrieb zu geben [4], [13]. Die akademische Medizin kontrolliert die wissenschaftliche Produktion von Ergebnissen und Innovationen und hebt diese auf ein neues Niveau. Sie fungiert damit als Argumentationsgrundlage schlechthin für ärztliche Expertise, Definitionsmacht, Autonomie und Einfluss im Gesundheitswesen.

Im Rahmen ärztlicher Berufstätigkeit werden auch Tendenzen der Deprofessionalisierung diskutiert. Gemeint sind damit vor allem die abnehmende Exklusivität des Berufs, die eingeschränkte professionspolitische Selbstkontrolle und die begrenzte Autonomie im ärztlichen Handeln.

3.3.1.6. Zusammenfassung

Der ärztliche Beruf zeichnet sich durch Merkmale aus, die ihn zu einer Profession machen. Dazu gehören vor allem die Erlangung von Expertenwissen, die berufliche Autonomie und der Zusammenschluss in beruflichen Interessenvertretungen. Ärztliches Handeln ist dabei historisch gewachsen und in gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen eingebettet. Die ärztliche Versorgung sowie die Ärzteschaft als Berufsstand haben im Laufe der Zeit einen Wandel erlebt, der mit einer starken Professionalisierung einhergegangen ist. Dagegen können heutzutage Zeichen für eine Beschränkung der beruflichen Autonomie und der ärztlichen Exklusivität gefunden werden. Dieser Prozess wird als Deprofessionalisierung bezeichnet.


[1] Im Jahr 2017 ist die Anzahl der Krankenhausärzte wieder um 2,1% auf 198.500 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Bei den niedergelassenen Ärzten ist im gleichen Zeitraum ein leichter Rückgang von 1,1% auf 118.356 zu verzeichnen [6].


References

[1] Kessler H. Kurzlehrbuch Medizinische Psychologie und Soziologie. 3rd ed. Stuttgart: Thieme; 2015. DOI: 10.1055/b-003-104356
[2] Faller H, Lang H, editors. Medizinische Psychologie und Soziologie. 4th ed. Berlin: Springer; 2016. DOI: 10.1007/978-3-662-46615-5
[3] Mieg HA. Profession: Begriff, Merkmale, gesellschaftliche Bedeutung. In: Dick M, Marotzki W, Mieg HA, editors. Handbuch Professionsentwicklung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt; 2016. p. 27-39.
[4] Siegrist J. Medizinische Soziologie. 6th ed. München: Elsevier, Urban u. Fischer; 2005.
[5] Foucault M. Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München: Hanser; 1973.
[6] Korzilius H, Maybaum T. Ärztestatistik 2017: Immer mehr angestellte Ärzte in den Praxen [Internet]. Dtsch Ärztebl. 2018 [cited];115(15):A692-4. Available from: https://www.aerzteblatt.de/archiv/197423/Aerztestatistik-2017-Immer-mehr-angestellte-Aerzte-in-den-Praxen
[7] Herder-Dorneich P. Ökonomische Theorie des Gesundheitswesens. Baden-Baden: Nomos; 1994.
[8] Wagner E. Der Arzt und seine Kritiker: Zum Strukturwandel medizinkritischer Öffentlichkeiten am Beispiel klinischer Ethik-Komittees. Stuttgart: Lucius und Lucius; 2011. DOI: 10.1515/9783110510188
[9] Göckenjan G. Kurieren und Staat machen: Gesundheit in der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 1985.
[10] Huerkamp C. Der Aufstieg der Ärzteschaft im 19. Jahrhundert: Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten. Das Beispiel Preußens. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht; 1985. DOI: 10.13109/9783666357275
[11] Larson MS. The Rise of Professionalism: A Sociological Analysis. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press; 1977.
[12] Bauch J. Medizinsoziologie. München, Wien: Oldenbourg; 2000. DOI: 10.1515/9783486794946
[13] Vogd W. Warum die (ärztliche) Profession auch in Zukunft nicht verschwindet. In: Pundt J, Kälble K, editors. Gesundheitsberufe und gesundheitsberufliche Bildungskonzepte. Bremen: Apollon University Press; 2015. p. 63-82.