Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.6. Soziologische Grundlagen

 Nico Dragano 1


1 Institut für Medizinische Soziologie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Medizinische Fakultät, Düsseldorf, Deutschland

Das Wissen um soziologische Grundlagen der Medizin gehört selbstverständlich zum Repertoire eines guten Arztes oder einer guten Ärztin. Der Grund ist einfach: Ärzte behandeln keine Krankheiten, sondern kranke Menschen, und Menschen sind soziale Wesen. In den folgenden Kapiteln wird gezeigt, wie gesellschaftliche Einflüsse und medizinische Phänomene verbunden sind und was das für die Analyse, Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten bedeutet. Manche Aspekte sind nah an der ärztlichen Praxis, wiederum andere betreffen die politisch-gesellschaftliche Ebene. Praxisnah ist beispielsweise die Frage, warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Um beispielsweise zu verstehen, warum geraucht wird, Vorsorgeuntersuchungen verschleppt werden oder Therapievorschlägen nicht gefolgt wird, ist es wichtig zu wissen, wie die soziale Umgebung und die Sozialisationsgeschichte eines Menschen sein Verhalten prägt. Ein weiterer Punkt in der alltäglichen Behandlung von Patienten ist, dass es zahlreiche Risikofaktoren gibt, die ihren Ursprung in der sozialen Welt haben. Konflikte, Mobbing, Diskriminierung und Stress sind genuin soziale Risiken, die mit zahlreichen körperlichen und seelischen Erkrankungen vergesellschaftet sind. Diese Faktoren müssen daher in der Anamnese berücksichtigt werden, um dann in der Therapie darauf eingehen zu können. Abgesehen von praktischen Erwägungen hilft die Soziologie aber auch dabei, das eigene Tun zu reflektieren. Das Gesundheitssystem ist ein komplexes soziales Gefüge und viele Regelungen wirken sich direkt auf die Art und Weise aus, wie Ärzte/Ärztinnen ihre Arbeit machen. Auch kann es erhellend sein, gesellschaftliche Normen zu Gesundheit und Krankheit zu hinterfragen, denn was krank und was gesund ist, ist nicht selten mehr eine Frage von Moralvorstellungen, Stereotypen und Verhaltensnormen als von naturwissenschaftlich klar abgrenzbaren biologischen Grenzwerten.

Artikel 1 der Berufsordnung der Ärzte in Deutschland beginnt mit dem Satz „Ärztinnen und Ärzte dienen der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung“ [1]. Wie kann man der Gesundheit der Bevölkerung dienen? Auch zu dieser Frage, die die Schnittstelle zwischen der Arbeit mit Patienten und der politischen Welt berührt werden in den folgenden Kapiteln Antworten gegeben. Im Zentrum steht die Beobachtung, dass sich die Gesundheit von sozialen Gruppen fundamental unterscheidet. Männer haben andere Erkrankungen als Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund haben spezifische Bedarfe und die sozio-ökonomische Lage ist in fundamentaler Weise prägend für nahezu alle Aspekte von Gesundheit und Krankheit. In Deutschland sterben arme Menschen derzeit beispielsweise ca. 10 Jahre früher als Menschen mit hohem Einkommen. Dahinter stehen komplexe Vorgänge, deren Kenntnis wichtig ist, um das eigene ärztliche Handeln so auszurichten, dass die speziellen Bedarfe der einzelnen Patientengruppen berücksichtigt werden. Zudem ist dieses Wissen die Grundlage für gesellschaftliches Engagement. Viele Ärztinnen und Ärzte setzen sich dafür ein, die sozialen Unterschiede in den Krankheitsrisiken auch politisch anzugehen und zu beseitigen – ganz im Sinne des Artikels 1 ihrer Berufsordnung.

In den folgenden Unterkapiteln wird zunächst ein Überblick über zentrale soziologische Theorien und ihre Bedeutung für die Medizin bzw. den Arztberuf gegeben (Kapitel 2.6.1.). Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit zwei grundlegenden Begriffen der Analyse von Gesellschaften (soziale Struktur und sozialer Wandel) – eine der Kernaufgaben der Soziologie (Kapitel 2.6.2.). Anschließend wird der zentrale Gegenstand der soziologischen Analyse in diesem Band konkreter eingeführt und aus unterschiedlichen Blickwinkeln thematisiert: Gesundheit und Krankheit (Kapitel 2.6.3.). Die folgenden Unterkapitel greifen verschiedene Dimensionen der Strukturierung von Gesellschaften auf unterschiedlichen Ebenen auf, die zentrale Einflussfaktoren für Gesundheit und Krankheit darstellen (Kapitel 2.6.4.Kapitel 2.6.10.) und unabdingbarer Bestandteil der Prävention, Diagnostik und Therapie sind.


References

[1] Bundesärztekammer. (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 –* in der Fassung des Beschlusses des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt. Dtsch Arztebl. 2019;116(5): A-230 / B-194 / C-194.