Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.6.2. Sozialstruktur und sozialer Wandel

 Thomas Lampert 1
Lea-Sophie Borgmann 1
Stephan Müters 1
Lars Eric Kroll 2


1 Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin, Germany
2 Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, Germany

2.6.2.1. Einleitung

Der Begriff Sozialstruktur, der auf den Soziologen Ferdinand Tönnies zurückgeht, bezieht sich auf die Einteilung der Gesellschaft nach sozialen Merkmalen bzw. sozialen Gruppen. Die soziologische Analyse der Sozialstruktur setzt häufig an der sozialen Ungleichheit an, die auch für einen modernen Wohlfahrtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland eine große Herausforderung darstellt. Auf die letzten Jahrzehnte zurückblickend, lässt sich feststellen, dass der soziale Wandel in Deutschland, der die gesellschaftliche Entwicklung und Veränderung der Sozialstruktur bezeichnet, durch eine Zunahme der Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie der Armutsbetroffenheit gekennzeichnet ist. Die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die sich verschlechternden Erwerbschancen von Geringqualifizierten und die Ausweitung des Niedriglohnsektors sind einige Ursachen dafür, dass zunehmend mehr Menschen durch Armut bedroht sind.

Aus Sicht der praktischen Medizin und der Gesundheitspolitik sind die Veränderungen der Sozialstruktur und die Zunahme der sozialen Ungleichheit und Armutsbetroffenheit von Bedeutung, weil sie sich auch in der Gesundheit und Lebenserwartung der Bevölkerung widerspiegeln. Auf der einen Seite hat die allgemeine Verbesserung der Lebensumstände dazu geführt, dass immer mehr Menschen bis ins hohe Alter ein gesundes und selbstständiges Leben führen können. Auf der anderen Seite ist eine sozial ungleiche Verteilung des Krankheits- und vorzeitigen Sterberisikos zu beobachten. Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind vermehrt von schwerwiegenden, die Lebensqualität beeinträchtigenden Krankheiten und Funktionseinschränkungen betroffen (siehe Kapitel 2.6.5.).

Im Folgenden richtet sich das Augenmerk zunächst auf die Definition und Messung von sozialer Ungleichheit und Armut. Anschließend wird der soziale Wandel in Deutschland beschrieben, wozu das Armutsrisiko, die Vermögensverteilung, die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Arbeitslosigkeit sowie der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen betrachtet werden soll.

2.6.2.2. Definition von sozialer Ungleichheit und Armut

In Deutschland und anderen Wohlfahrtsstaaten werden unter sozialer Ungleichheit und Armut, anders als in Entwicklungs- und Schwellenländern, zumeist keine existenzbedrohenden Notlagen verstanden. Stattdessen geht es um eine relative soziale Benachteiligung in Bezug auf die Lebensbedingungen, die soziale Integration und die Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

 

Nach dem Soziologen Stefan Hradil liegt soziale Ungleichheit dann vor, „wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung im sozialen Beziehungsgefüge von den wertvollen Gütern einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten“. Zentral an dieser Definition sind drei Aspekte [1]:


  1. Soziale Besser- oder Schlechterstellung: Der Blick richtet sich auf die Position in einem als hierarchisch verstandenen Gesellschaftsgefüge. „Unter diesen vielfältigen sozialen Unterschieden soll [...] die Aufmerksamkeit jenen gelten, die Menschen im Vergleich miteinander nicht einfach als in bestimmter Hinsicht verschiedenartig charakterisieren, sondern sie gleichzeitig als besser- oder schlechter-, höher- oder tiefergestellt erscheinen lassen.“

  2. Verfügung über wertvolle Güter: Als „wertvoll“ werden Güter erachtet, die „Lebens- und Handlungsbedingungen darstellen, die zur Erlangung von allgemein verbreiteten Zielvorstellungen einer Gesellschaft dienen. [...] Solche Güter können beispielsweise Geld, eine (unkündbare) Berufsstellung, Bildungsabschlüsse, Lebens- und Arbeitsbedingungen oder auch Macht sein.“

  3. Regelmäßige Ungleichverteilung: Letztlich geht es um die Frage, wie die als wertvoll erachteten Güter in der Gesellschaft verteilt werden. „Nicht alle Vor- und Nachteile, nicht alle Besser- bzw. Schlechterstellungen sind also Erscheinungsformen sozialer Ungleichheit, sondern nur jene, die in gesellschaftlich strukturierter, vergleichsweise beständiger und verallgemeinerbarer Form zur Verteilung kommen. Dies trifft beispielsweise auf Einkommens- und Machtunterschiede zu, die an bestimmte berufliche Stellungen geknüpft sind. Ihre Bindung an relativ konstante gesellschaftliche Beziehungen und Positionen unterscheidet soziale von anderen Ungleichheiten.“

Stefan Hradil spricht in diesem Zusammenhang auch von „vertikaler“ sozialer Ungleichheit, weil die Vorstellung eines vertikal abgestuften Gesellschaftaufbaus bzw. einer sozialen Stufenleiter zugrunde liegt. Davon grenzt er „horizontale“ soziale Ungleichheit ab, die sich eher an Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Wohnregion oder Migrationshintergrund festmacht. „Vertikale“ und „horizonale“ soziale Ungleichheit bestehen häufig nebeneinander oder sind miteinander verknüpft. Beispiele hierfür sind Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen oder die unterschiedliche Bildungsbeteiligung von Menschen ohne und mit Migrationshintergrund.

In diesem Verständnis von sozialer Ungleichheit bezeichnet Armut den unteren, durch extreme Nachteile gekennzeichneten Randbereich der Sozialstruktur, wobei zwischen absoluter, potenziell lebensbedrohender Armut und relativer Armut, der in entwickelten Ländern das Hauptaugenmerk gilt, zu unterscheiden ist. Die relative Armut wird dabei in Bezug zur gesellschaftlichen Mitte, d.h. dem mittleren gesellschaftlichen Lebensstandard, bestimmt. So gelten nach der Armutsdefinition der Europäischen Union, die bereits Mitte der 1980er Jahre formuliert wurde, diejenigen Personen, Familien und Gruppen als arm, „die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ [2]. Ein Anstieg relativer Armut ist somit selbst dann möglich, wenn der gesamtgesellschaftliche Wohlstand zunimmt und es allen gesellschaftlichen Gruppen besser geht. Die steigende Armut bzw. Ungleichheit bringt in diesem Fall zum Ausdruck, dass sich der Abstand zwischen dem unteren und dem oberen Ende der sozialen Stufenleiter vergrößert.

 

2.6.2.3. Messung von sozialer Ungleichheit und Armut

In empirischen Studien wird soziale Ungleichheit zumeist über das Einkommen, die Bildung und die berufliche Stellung operationalisiert. Bezüglich des Einkommens wird häufig das sogenannte Nettoäquivalenzeinkommen berücksichtigt, das ermöglicht, das Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung miteinander zu vergleichen (siehe Infokasten). Im Hinblick auf die Bildung interessiert nicht nur die Schulbildung, sondern auch die berufliche Ausbildung, zu der auch das Studium an einer Hoch- oder Fachhochschule gezählt wird. Und im Zusammenhang mit der beruflichen Stellung wird neben der Zugehörigkeit zu versicherungsrechtlichen Statusgruppen wie Arbeiter, Angestellte, Beamte oder Selbstständige oftmals auch die konkrete berufliche Tätigkeit erfasst, also z.B. Bäcker, Krankenpfleger oder Rechtsanwalt. Für die Messung der drei Merkmale in empirischen Studien gibt es zahlreiche nationale und internationale Empfehlungen und Instrumente [3].

Nettoäquivalenzeinkommen

Das Nettoäquivalenzeinkommen wird ausgehend vom Haushaltsnettoeinkommen (Summe der Erwerbs-, Kapital-, Transfer- und sonstiger Einkommen der Haushaltsmitglieder) berechnet. Dabei wird eine Bedarfsgewichtung vorgenommen, die Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften in einem Mehr-Personen-Haushalt und die altersspezifisch variierenden Einkommensbedarfe berücksichtigt. Für die Bedarfsgewichtung wird zuvorderst auf die neue OECD-Äquivalenzskala zurückgegriffen, die dem Haushaltsvorstand ein Gewicht von 1, jeder weiteren Person im Alter von mindestens 14 Jahren ein Gewicht von 0,5 und jeder weiteren Person, die jünger als 14 Jahre ist, ein Gewicht von 0,3 zuweist. Für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren ergäbe sich folglich ein Bedarfsgewicht von 2,1 (1+0,5+0,3+0,3) und bei einem Haushaltsnettoeinkommen von 4.200 Euro ein Nettoäquivalenzeinkommen von 2.000 Euro (4.200 Euro/2,1). Das heißt wiederum, dass ein Vierpersonenhaushalt mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 4.200 Euro über den gleichen finanziellen Handlungsspielraum verfügt wie ein Einpersonenhaushalt mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 2.000 Euro.

Zentrale Kenngröße zur Messung von Armut ist die sogenannte Armutsrisikoquote, die den Anteil der Personen bezeichnet, die in Haushalten leben, die über weniger als 60% des mittleren gesellschaftlichen Einkommens verfügen können [4]. Herangezogen wird dazu der Median des Nettoäquivalenzeinkommens, der in Deutschland im Jahr 2014 nach Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), einer jährlichen Haushaltsbefragung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, 1.760 Euro betrug. Einem Armutsrisiko waren damit im Jahr 2014 alle Personen in Haushalten mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 1.056 Euro ausgesetzt.

Darüber hinaus kommen Maße zum Einsatz, die sich auf die gesamte Einkommensverteilung eines Landes beziehen und Einkommensungleichheit messen. Das bekannteste Maß ist der sogenannte Gini-Koeffizient, der die Abweichung einer empirisch ermittelten Einkommensverteilung von einer hypothetisch unterstellten maximalen Gleichverteilung darstellt [5]. Im Falle der maximalen Gleichverteilung der Einkommen (d.h., jede Person bezieht exakt das Durchschnittseinkommen der betrachteten Grundgesamtheit) nimmt der Gini-Koeffizient den Wert 0 an, während er im anderen Extremfall einer maximal ungleichen Einkommensverteilung (d.h. eine einzige Person bezieht das komplette Einkommen der betrachteten Grundgesamtheit für sich alleine) den Wert 1 annimmt. 

Alternativ oder ergänzend wird häufig der Robin-Hood-Index bzw. Hoover-Koeffizient ermittelt. Dieser beschreibt die Menge des gesamtgesellschaftlichen Einkommens, das umverteilt, also der reicheren Hälfte der Bevölkerung genommen und der ärmeren Hälfte gegeben werden müsste, um finanzielle Gleichheit zu schaffen. Der Robin-Hood-Index kann ebenfalls Werte zwischen 0 und 1 annehmen und wie der Gini-Koeffizient auch eingesetzt werden, um die Ungleichheit der Vermögensverteilung zu beschreiben.

 

2.6.2.4. Entwicklung des Armutsrisikos

Die Armutsrisikoquote ist seit Ende der 1990er Jahre bis zum Jahr 2005 von etwa 11% auf 14% gestiegen. In den letzten zehn Jahren lag sie relativ konstant bei 14–15%, im Jahr 2014 mit 15,8% wieder etwas höher (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Entwicklung der Armutsrisikoquote in Deutschland (eigene Darstellung, Datenquelle: SOEP1998-2014)
Abbildung 1: Entwicklung der Armutsrisikoquote in Deutschland (eigene Darstellung, Datenquelle: SOEP 1998–2014)

Dabei lassen sich erhebliche regionale Unterschiede in der Armutsbetroffenheit beobachten. Während 2014 in Westdeutschland etwa 13–14% der Bevölkerung in Armut lebten oder durch Armut bedroht waren, traf dies in Ostdeutschland auf über 20% der Bevölkerung zu. Betrachtet man die regionalen Unterschiede auf Ebene der 16 Bundesländer, fällt zum einen auf, dass die Armutsrisikoquoten 2014 in den nordöstlichen Flächenstaaten Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt am höchsten und in den südwestlichen Flächenstaaten Bayern und Baden-Württemberg am niedrigsten waren. Außerdem wird deutlich, dass sich auch innerhalb einzelner Bundesländer zum Teil erhebliche regionale Unterschiede zeigten, z.B. in Nordrhein-Westfalen (siehe Abbildung 2).

 

Abbildung 2: Regionale Unterschiede in der Armutsrisikoquote auf Ebene der Bundesländer und der Raumordnungsregionen (in %), Datenquelle: Mikrozensus 2014 (eigene Darstellung)
Abbildung 2: Regionale Unterschiede in der Armutsrisikoquote auf Ebene der Bundesländer und der Raumordnungsregionen (in %; eigene Darstellung, Datenquelle: Mikrozensus 2014)

Eine bevölkerungsgruppenspezifische Betrachtung zeigt, dass Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene verstärkt durch Armut bedroht sind. Die niedrigsten Armutsrisikoquoten finden sich bei Personen im mittleren Lebensalter. Bezogen auf die Haushaltsform sind kinderreiche Familien und Alleinerziehende einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt. Dabei zeigt sich, dass die Zunahme der Armutsbetroffenheit seit Ende der 1990er Jahre bei Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen, kinderreichen Familien und Alleinerziehenden überproportional ausfiel.

2.6.2.5. Verteilung des Vermögens

Zum Vermögen privater Haushalte zählen der Besitz von Immobilien, Geldvermögen, Vermögen aus privaten Versicherungen sowie Betriebs- und Sachvermögen. Das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland betrug im Jahr 2012 rund 6,3 Billionen Euro [6]. Dabei verfügte das vermögendste Zehntel der Bevölkerung im Jahr 2012 über knapp 58%, die unteren sieben Zehntel der Bevölkerung dagegen nur über etwa 10% des gesamten Vermögens (vgl. Abbildung 3). Betrachtet man nur die unteren fünf Zehntel der Bevölkerung, tendiert das Vermögen gegen Null.

 

Abbildung 3: Verteilung des Nettovermögens privater Haushalte, Datenquelle: SOEP 2012 (eigene Darstellung)
Abbildung 3: Verteilung des Nettovermögens privater Haushalte1 (modifizierte Abbildung nach Grabka, Westermeier [6], Datenquelle: SOEP 2012)

Das Vermögen ist damit in Deutschland noch deutlich ungleicher verteilt als das Einkommen. Dies lässt sich anhand der sogenannten Lorenzkurven der Einkommens- und Vermögensverteilung und des Gini-Koeffizienten veranschaulichen (siehe Abbildung 4). An den Lorenzkurven kann abgelesen werden, wie sehr die empirisch ermittelte Einkommens- bzw. Vermögensverteilung von einer hypothetisch unterstellten maximalen Gleichverteilung, grafisch repräsentiert durch die Winkelhalbierende (oder Gleichverteilungsgerade), abweicht. Der Gini-Koeffezient entspricht dem Anteil der Fläche zwischen der Winkelhalbierenden und der Lorenzkurve der Einkommens- bzw. Vermögensverteilung an der betrachteten Gesamtfläche, also dem Dreieck unterhalb der Gleichverteilungsgeraden. Nach Daten des SOEP betrug der Gini-Koeffizient im Jahr 2012 beim Vermögen 0,77 und beim Einkommen 0,29 [4].

 

Abbildung 4: Lorenzkurve der Einkommens- und Vermögensverteilung, Datenquelle: SOEP 2012 (eigene Darstellung)
Abbildung 4: Lorenzkurve der Einkommens- und Vermögensverteilung (eigene Darstellung)

Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass in Deutschland seit 1997 keine Vermögenssteuer mehr erhoben wird und die Erbschaftssteuer relativ gering ist. Der Höchststeuersatz liegt bei 30% ab einer Erbsumme von 26 Millionen Euro und bei lediglich 19% bis zu einer Erbsumme von 6 Millionen Euro. Im Vergleich dazu: Der Einkommensspitzensteuersatz beträgt gegenwärtig 42% bzw. 45% ab einem Einkommen von 260.000 Euro. Außerdem gelten für die Erbschaftssteuer hohe Freibeträge von 500.000 Euro für Ehepartner, 400.000 Euro für Kinder und 200.000 Euro für Enkelkinder.

2.6.2.6. Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt

Der Arbeitsmarkt ist einem stetigen Wandel unterworfen, gekennzeichnet unter anderem durch Veränderungen in Bezug auf Produktionsmethoden und Standorte, die Nachfrage für Produkte und Dienstleistungen sowie das Arbeitskräfteangebot. Ein zentraler Trend der letzten Jahrzehnte ist die Verlagerung der Beschäftigung vom primären Sektor (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei) und sekundären Sektor (Produzierendes Gewerbe) in den tertiären Sektor (Dienstleistungen). Während Ende der 1950er Jahre noch zwei Drittel der Beschäftigten in der Landwirtschaft und Produktion tätig waren, hat sich dieser Anteil bis zum Jahr 2016 mehr als halbiert (vgl. Abbildung 5). Im Zuge dieses Wandels hat sich auch das Berufsspektrum der Erwerbstätigen immer mehr verändert. So steigen die Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten in allen Wirtschaftsbereichen, während einfache Tätigkeiten – mit Ausnahme der personenbezogenen Dienstleistungen – zunehmend automatisiert und ausgelagert werden.

Abbildung 5: Veränderung des Anteils der Beschäftigten in verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Datenquelle: DESTATIS (eigene Darstellung)
Abbildung 5: Veränderung des Anteils der Beschäftigten in verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Datenquelle: Destatis [7] (eigene Darstellung)

Bei den Beschäftigten führt insbesondere der Einsatz neuer Kommunikations- und Datenverarbeitungstechnologien zu neuen Anforderungs- und Belastungskonstellationen. So birgt die Flexibilisierung der Arbeitsformen und -orte die Gefahr einer Entgrenzung von Arbeit und Freizeit und begünstigt Erfahrungen einer gesteigerten Arbeitsintensität. Damit gehen eine Zunahme geistiger Arbeit und die Notwendigkeit lebenslangen Lernens einher. Für gering qualifizierte Beschäftigte bedeutet der technologische Fortschritt eine zunehmende Einengung auf wenige Beschäftigungsbereiche, in denen personalintensive Helfertätigkeiten noch nachgefragt werden, wobei diese Tätigkeiten infolge der Deregulierung des Arbeitsmarktes häufig wenig abgesichert sind. Mit Blick auf die Arbeitsbelastungen, denen Erwerbstätige im Kontext dieser Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind, zeigt sich, dass psychosoziale Belastungen an Bedeutung gewinnen, während körperliche Belastungen – mit Ausnahme von Belastungen durch monotones Sitzen – insbesondere bei qualifizierten Tätigkeiten rückläufig sind.

2.6.2.7. Entwicklung der Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit wird als wichtigste Ursache für Einkommens- und auch für Vermögensarmut angesehen. Arbeitslos im sozialrechtlichen Sinne des SGB III (sog. Arbeitslosengeld I) bzw. SGB II (sog. Arbeitslosengeld II) sind alle Personen, die vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen oder weniger als 15 Stunden pro Woche arbeiten, eine versicherungspflichtige Beschäftigung suchen und dabei den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehen und sich bei einer Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet haben [8]. Das Arbeitslosengeld soll Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre Beschäftigung verlieren, sozial absichern und das nicht länger bezogene Arbeitsentgelt teilweise ersetzen. Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, z.B. beruflichen Weiterbildungs- oder Umschulungsangeboten, zählen nicht als arbeitslos. Sie werden in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit, ebenso wie sogenannte ‚Aufstocker‘ (d.h. Personen, die mit ihrer Beschäftigung ein so geringes Einkommen erzielen, dass sie ergänzend finanzielle Leistungen vom Jobcenter erhalten), zusammen mit der Gruppe der Arbeitslosen als Arbeitsuchende geführt.

 

Abbildung 6: Langfristige Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland. Datenquelle: DESTATIS (eigene Darstellung)
Abbildung 6: Langfristige Entwicklung der Arbeitslosenquote in Deutschland (modifizierte Darstellung nach [9])

In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit nach einer Phase annähernder Vollbeschäftigung seit den 1970er Jahren mehrfach sprunghaft angestiegen, unter anderem aufgrund der Ölpreiskrisen 1973 und 1981, der Anfang der 1990er Jahre einsetzenden Rezession und der wirtschaftlichen Probleme im Zuge der Wiedervereinigung (vgl. Abbildung 6). Mit dem SGB II wurden Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (dem sogenannten „Hartz IV“) zusammengelegt, wodurch die Zahl der arbeitslos gemeldeten Personen deutlich anstieg. Im Februar 2005 lag sie bei 5,2 Millionen, was einer Arbeitslosenquote von über 12% entsprach. Seitdem ist die Arbeitslosenquote infolge der verbesserten Lage auf dem Arbeitsmarkt deutlich zurückgegangen, bis auf 6,1% im Jahresdurchschnitt 2016. Gleichzeitig hat aber die Zahl der Erwerbstätigen in prekären Beschäftigungsverhältnissen zugenommen. Beispielsweise ist die Zahl der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer, also von Beschäftigten, die von einem Arbeitgeber einem Dritten gegen Entgelt für begrenzte Zeit überlassen werden (Arbeitnehmerüberlassung), deutlich von 0,3 Millionen im Januar 2003 auf 1,0 Millionen im Januar 2017 angestiegen [10].

2.6.2.8. Soziale Herkunft und Bildungschancen

Eine gute schulische und berufliche Ausbildung ist eine wesentliche Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt und erhöht die mit der beruflichen Stellung verbundenen Einkommenschancen. In Deutschland hat die Bildungsbeteiligung seit den 1970er Jahren deutlich zugenommen. Der Anteil der Personen mit Fachhochschul- oder Hochschulabschluss lag im Jahr 1995 noch bei 23,5%, während er im Jahr 2015 bereits 31,1% betrug. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der Personen, die lediglich über einen Hauptschulabschluss verfügen, von 20,1% auf 12,7% gesunken [4].

 

Abbidlung 7: Anzahl der Grundschüler von 100, die ein Studium aufnehmen und akademische Abschlüsse erwerben, Quelle: Hochschul-Bildungs-Report 2020 (eigene Darstellung)
Abbidlung 7: Anzahl der Grundschüler von 100, die ein Studium aufnehmen und akademische Abschlüsse erwerben (modifizierte Darstellung nach [11])

Auf der anderen Seite ist nach wie vor ein enger Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen Heranwachsender zu beobachten. Dies kommt bereits darin zum Ausdruck, dass Kinder aus sozial bessergestellten Elternhäusern häufiger nach Abschluss der Grundschule eine Gymnasialempfehlung erhalten. Auch danach erweist sich das Bildungssystem als selektiv: Von 100 Kindern, deren Eltern einen akademischen Abschluss haben, nehmen 74 ein Hochschul- oder Fachhochschulstudium auf, 63 erwerben einen Bachelor- und 45 einen Masterabschluss und immerhin 10 schließen eine Promotion ab. Von 100 Kindern von Eltern ohne akademischen Abschluss beginnen lediglich 21 ein Studium, 15 machen einen Bachelor- und 8 einen Masterabschluss. Nur 1 Kind von 100 promoviert (vgl. Abbildung 7).

 

2.6.2.9. Zusammenfassung

Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt und ist durch umfassende soziale Sicherungssysteme charakterisiert. Wie leistungsstark die Wirtschaft und der Sozialstaat in Deutschland sind, wird auch daran deutlich, dass Herausforderungen, z.B. infolge der Wiedervereinigung oder der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, gut gemeistert wurden. Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass sich die Lebensverhältnisse in Deutschland auseinanderentwickeln. Dies betrifft nicht nur die Unterschiede zwischen Arm und Reich, sondern auch die mittleren Soziallagen, die als Fundament der Gesellschaft und des Sozialstaates begriffen werden können. Der soziale Wandel konnte hier nur anhand einiger Entwicklungslinien nachgezeichnet werden, z.B. der Zunahme der Armutsbetroffenheit, der voranschreitenden Konzentration des Privatvermögens sowie der Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Aber schon diese Entwicklungslinien machen deutlich, dass die soziale Ungleichheit der Lebensbedingungen und sozialen Teilhabechancen auch im 21. Jahrhundert eine der größten gesellschaftlichen und damit auch bevölkerungsmedizinischen Herausforderungen bleibt.

Kernaussagen
Das Armutsrisiko hat über die letzten 15-20 Jahre zugenommen und betrifft aktuell 15,8% der Bevölkerung in Deutschland


  • Das Privatvermögen ist in Deutschland noch ungleicher verteilt als das Einkommen: ein Zehntel der Bevölkerung vereint fast 60% des gesamten Vermögens auf sich, während die Hälfte der Bevölkerung so gut wie kein Vermögen besitzt.

  • Die Beschäftigungsaussichten und Einkommenschancen von Geringqualifizierten verschlechtern sich zusehends.

  • Die Arbeitslosigkeit liegt aktuell mit 6,1% auf einem sehr niedrigen Niveau, allerdings hat die Zahl der Erwerbstätigen in prekären Beschäftigungsverhältnissen deutlich zugenommen.

  • Die Bildungsbeteiligung ist angestiegen, der Bildungszugang und Bildungserfolg hängt aber nach wie vor in hohem Maße von der sozialen Herkunft ab.

  • Die soziale Ungleichheit der Lebensbedingungen und Teilhabechancen stellt auch im 21. Jahrhundert eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen dar.

 

 


 

 Personen ab 17 Jahre in Privathaushalten, mit 0,1% Top-Coding


References

[1] Hradil S. Soziale Ungleichheit in Deutschland. Opladen: Leske+Budrich; 2001.
[2] Rat der Europäischen Gemeinschaft. Beschluss des Rates vom 19. Dezember 1984 über gezielte Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut auf Gemeinschaftsebene. Amt für Amtl. Veröff. der Europ. Gemeinschaften. 1985 jan;L2:24-5. Available from: https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/88ac0e06-40ac-4c7b-8cdb-77e780688bd6
[3] Lampert T, Kroll LE. Messung des sozioökonomischen Status in sozialepidemiologischen Studien. In: Richter M, Hurrelmann K, editors. Gesundheitliche Ungleichheit – Grundlagen, Probleme, Perspektiven. 2nd rev ed. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2009. p. 309-334. DOI: 10.1007/978-3-531-91643-9_18
[4] Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Armuts- und Reichtumsbericht [Internet]. Bonn: BMAS; [cited 2018 Sep 21]. Available from: http://www.armuts-und-reichtumsbericht.de
[5] Gabler Wirtschaftslexikon. Das Wissen der Experten [Internet]. Wiesbaden: Springer Gabler; [cited 2018 Feb 2]. Available from: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/gini-koeffizient-33245/version-256772
[6] Grabka MM, Westermeier C. Private Vermögen – Höhe, Entwicklung und Verteilung. In: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Statistisches Bundesamt (Destatis), editors. Datenreport 2016: Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung/bpb; 2016. p. 191-199. Available from: https://www.statistischebibliothek.de/mir/receive/DEHeft_mods_00044426
[7] Destatis. Gesamtwirtschaft & Umwelt - Arbeitsmarkt: Erwerbstätige im Inland nach Wirtschaftssektoren. Statistisches Bundesamt: Wiesbaden; 2017.
[8] Bundesagentur für Arbeit. Kurzinformation Arbeitslosenstatistik [Internet]. Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit; 2020 [cited 2020 Sep 2]. Available from: https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Grundlagen/Definitionen/Generische-Publikationen/Kurzinformation-Arbeitsmarktstatistik.pdf?__blob=publicationFile&v=8
[9] Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Arbeitsmarkt in Deutschland [Internet]. Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit; 2016 [cited 2020 Sep 2]. Available from: https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/201512/analyse/analyse-arbeitsmarkt-zeitreihen/analyse-arbeitsmarkt-zeitreihen-d-0-201512-pdf.pdf?__blob=publicationFile
[10] Bundesagentur für Arbeit. Aktuelle Entwicklungen der Zeitarbeit. Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit; 2017. (Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt).
[11] Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e. V. Hochschul-Bildungs-Report 2020 – Höhere Chancen durch höhere Bildung? Jahresbericht 2017/18 – Halbzeitbilanz 2010 bis 2015. Essen: Edition Stifterverband; 2017.