Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.2.4. Gedächtnis

 Susanne Diekelmann 1


1 Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie, Universität Tübingen, Tübingen, Germany

Ob wir für eine Prüfung lernen, das Gesicht eines Freundes wiedererkennen, Fahrrad fahren oder wissen, dass man eine heiße Herdplatte nicht anfassen sollte: Unser Gedächtnis ist für unser alltägliches Funktionieren unerlässlich. Dieses Kapitel behandelt die Definition von Gedächtnis, verschiedene Formen des Gedächtnisses sowie Einflussfaktoren auf die Gedächtnisbildung. Zudem werden die neuronalen Mechanismen des Gedächtnisses und relevante Gedächtnisstörungen besprochen.

2.2.4.1. Definition und Stufen der Gedächtnisbildung

Als Gedächtnis bezeichnet man die Fähigkeit, sich neues Wissen und neue Fertigkeiten anzueignen, zu speichern und wieder abzurufen. Der Begriff Gedächtnis kann sich dabei auf zwei unterschiedliche Aspekte beziehen:

  • die Prozesse, die zum Erwerb von Wissen und Fertigkeiten führen und
  • das Produkt dieser Prozesse, d.h. angeeignetes Wissen und Fertigkeiten.

Die Bildung von Gedächtnis erfolgt in drei Stufen (Abbildung 1) [1]. Neue Informationen werden zunächst aufgenommen und als neue Gedächtnisspur (Engramm) in Form eines neuronalen Kodes angelegt, daher wird diese Phase auch als Enkodierung bezeichnet. Die neuen Gedächtnisspuren sind zunächst noch labil und anfällig für Störungen und müssen in der zweiten Phase – der Konsolidierung – gefestigt und stabilisiert werden, um das langfristige Behalten (die Retention) zu sichern. Gespeicherte Informationen können schließlich in der dritten Phase – dem Abruf – auch nach längerer Zeit wieder erinnert werden.

Abbildung 1: Stufen der Gedächtnisbildung (eigene Darstellung)
Abbildung 1: Stufen der Gedächtnisbildung (eigene Darstellung)

2.2.4.2. Formen des Gedächtnisses

Zeitliche Einteilung des Gedächtnisses

Nach der Dauer des Behaltens unterscheidet man drei Formen des Gedächtnisses: das sensorische Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis (Abbildung 2) [1], [2]. Im sensorischen Gedächtnis werden Informationen nur wenige Millisekunden oder Sekunden aufrechterhalten, sodass basale physikalische Merkmale der Reize verarbeitet werden können (z.B. Form, Farbe). Damit stellt das sensorische Gedächtnis quasi die Schnittstelle zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis dar. Die Verarbeitung der Reize erfolgt modalitätsspezifisch in den jeweiligen Repräsentationssystemen der sensorischen und assoziativen Kortexareale. So werden visuelle Reize zum Beispiel im visuellen Kortex verarbeitet (auch ikonisches Gedächtnis genannt) und auditive Reize in auditorischen Kortexarealen (auch echoisches Gedächtnis genannt). Vermutlich gibt es auch weitere Formen des sensorischen Gedächtnisses, u.a. für haptische (Berührungs-), olfaktorische (Geruchs-) und gustatorische (Geschmacks-)Reize. Die Kapazität des sensorischen Gedächtnisses ist sehr groß, allerdings wird die Information nur für sehr kurze Zeit aufrechterhalten (für visuelle Information ca. 500 ms, für auditive Information ca. 2 Sek.) und fortlaufend durch neue Information überschrieben.

Abbildung 2: Zeitliche Einteilung des Gedächtnisses (eigene Darstellung, modifiziert nach [1])
Abbildung 2: Zeitliche Einteilung des Gedächtnisses (eigene Darstellung, modifiziert nach [1])

Informationen aus dem sensorischen Gedächtnis können dadurch, dass die Aufmerksamkeit auf diese Informationen gerichtet wird, in das Kurzzeitgedächtnis gelangen. Im Kurzzeitgedächtnis (auch Arbeitsgedächtnis genannt) können Informationen für einige Minuten aufrechterhalten werden. Nach dem klassischen Modell von Baddeley werden vier Subsysteme des Arbeitsgedächtnisses unterschieden. Die phonologische Schleife verarbeitet akustische und sprachliche Informationen und hält diese durch Wiederholung (eine Art „inneres Sprechen“) aufrecht. Der visuell-räumliche Notizblock verarbeitet visuelle Informationen, einschließlich ihrer Objektmerkmale wie Farbe und Form sowie ihrer räumlichen Anordnung. Der episodische Puffer kann verschiedene Informationen verknüpfen, z.B. visuelle und akustische Informationen, und diese kurzzeitig als kombinierte „Episoden“ aufrechterhalten. Schließlich fungiert die sogenannte zentrale Exekutive als Kontrollsystem, welches die anderen Subsysteme überwacht und ggf. Verarbeitungsprioritäten setzt. Die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses ist begrenzt. Die meisten Menschen können 7 ± 2 (d.h. ca. 5–9) Einheiten für kurze Zeit aufrechterhalten. Diese Kapazität wird auch als Gedächtnisspanne bezeichnet und entspricht ungefähr dem kurzzeitigen „im Kopf behalten“ einer Telefonnummer. Wichtig ist dabei, dass sich die Gedächtnisspanne nicht auf einzelne Elemente (z.B. einzelne Zahlen) bezieht, sondern auf bedeutungshaltige Einheiten – sogenannte Chunks. Die Buchstabenreihe SA TRT LA RDZ DF ist z.B. viel einfacher zu merken, wenn man die Buchstaben anders gruppiert, sodass sie eine Bedeutung ergeben, z.B. SAT RTL ARD ZDF. Durch dieses sogenannte Chunking kann die Gedächtnisspanne deutlich vergrößert werden. Je größer die einzelnen Chunks, desto mehr Inhalte können insgesamt im Kurzzeitgedächtnis aufrechterhalten werden – ein Phänomen das unter anderem von Gedächtnissportlern genutzt wird und von jedermann trainiert werden kann.

Durch Wiederholung und tiefere Verarbeitung können Informationen vom Kurzzeitgedächtnis schließlich in das Langzeitgedächtnis übertragen werden. Im Langzeitgedächtnis werden die Informationen nicht mehr modalitätsspezifisch verarbeitet, sondern nach ihrer Bedeutung strukturiert in semantischen Netzwerken gespeichert. Die Kapazität des Langzeitgedächtnisses ist theoretisch unbegrenzt und prinzipiell können Informationen ein Leben lang im Langzeitgedächtnis gespeichert bleiben. Inhalte aus dem Langzeitgedächtnis können über das Kurzzeitgedächtnis wieder ins Bewusstsein geholt und abgerufen werden.

Inhaltliche Einteilung des Langzeitgedächtnisses

Das Langzeitgedächtnis wird nach seinen Inhalten in ein deklaratives Gedächtnis und ein nondeklaratives Gedächtnis unterteilt (Abbildung 3) [1], [2]. Das deklarative Gedächtnis umfasst Inhalte, die bewusst abrufbar und sprachlich ausgedrückt werden können. Das deklarative Gedächtnis kann weiter unterteilt werden in ein episodisches Gedächtnis und ein semantisches Gedächtnis. Das episodische Gedächtnis speichert autobiographische Ereignisse im raum-zeitlichen Kontext, d.h. es umfasst Informationen darüber was, wo, wann passiert ist, z.B. eine Erinnerung an den letzten Urlaub oder das gestrige Abendessen. Das semantische Gedächtnis speichert demgegenüber allgemeines Welt- und Faktenwissen, für das wir keine Erinnerung mehr daran haben, wann und wo wir dieses Wissen erworben haben, z.B. dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist oder dass Tomaten normalerweise rot sind.

Abbildung 3: Inhaltliche Einteilung des Langzeitgedächtnisses (eigene Darstellung, modifiziert nach [1])
Abbildung 3: Inhaltliche Einteilung des Langzeitgedächtnisses (eigene Darstellung, modifiziert nach [1])

Das nondeklarative Gedächtnis umfasst Wissen, dass sich im Verhalten manifestiert (z.B. in einer Leistungssteigerung oder in Fertigkeiten), ohne dass dieses Wissen notwendigerweise mit bewussten Erinnerungen verbunden ist und meist nicht sprachlich ausgedrückt werden kann. Das nondeklarative Gedächtnis umfasst verschiedene Formen des Gedächtnisses. Als prozedurale Gedächtnis wird das Gedächtnis für Fähigkeiten und Fertigkeiten bezeichnet, die durch wiederholtes Üben oder Trainieren erworben werden, z.B. motorische Fertigkeiten wie Fahrradfahren und Klavier spielen. Unter Priming (Bahnung) versteht man den Einfluss eines Reizes (eng. Primes) auf die Verarbeitung nachfolgender Reize, ohne bewusste Erinnerung an den ursprünglichen Reiz. Wird zum Beispiel ein negatives Wort subliminal (d.h. unbewusst, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle) dargeboten, kann dies dazu führen, dass alle nachfolgenden Wörter negativer bewertet werden. Zum nondeklarativen Gedächtnis wird des Weiteren die Konditionierung gezählt, die bereits in Kapitel 2.2.3. behandelt wurde.

In einigen Theorien zum Gedächtnis wird das deklarative Gedächtnis auch als explizites Gedächtnis bezeichnet (da die Inhalte größtenteils bewusst sprachlich beschrieben werden können), während das nondeklarative Gedächtnis auch als implizites Gedächtnis bezeichnet wird (da die Inhalte mehr oder weniger unbewusst sind, d.h. nicht sprachlich beschrieben werden können). Die Gleichsetzung von deklarativ = explizit und nondeklarativ = implizit ist jedoch umstritten. Obwohl die Konzepte größtenteils überlappen, können sie in Einzelfällen auch divergieren. So können nondeklarative Inhalte prinzipiell auch explizit sein, wenn man beispielsweise einen motorischen Ablauf des prozeduralen Gedächtnisses bewusst sprachlich beschreiben kann (wie z.B. eine bestimmte Armbewegung beim Tennis spielen). Andererseits können deklarative Inhalte manchmal auch implizit sein, wenn sie (zumindest zeitweise) nicht bewusst sprachlich wiedergegeben werden können. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn wir eine Vokabel gerade nicht wiedergeben können, obwohl wir sie eigentlich bewusst wissen. Hier sind die Grenzen zum Teil nicht eindeutig definierbar.  

Mit Hilfe von verschiedenen Gedächtnistests kann der Abruf von Gedächtnisinhalten getestet werden. Um das Kurzzeitgedächtnis zu untersuchen, wird dem Patienten z.B. eine Zahlenreihe vorgelesen (z.B. 7 4 8 9 2 5) und der Patient soll diese sofort wiederholen (Zahlennachsprechen). Der Abruf aus dem Langzeitgedächtnis erfolgt für das deklarative Gedächtnis in Form eines Wiedererkennens (Rekognition) oder eines freien Erinnerns (Reproduktion), wobei das Wiedererkennen typischerweise einfacher ist als das Reproduzieren. Getestet wird dies z.B., indem Patienten Bilder gezeigt bekommen und diese nach einigen Minuten wiedererkennen sollen oder indem Patienten einige Wörter vorgelesen bekommen und diese nach kurzer Zeit frei reproduzieren sollen. Die verschiedenen Formen des nondeklarativen Gedächtnisses können mit unterschiedlichen Aufgaben getestet werden, z.B. Spiegelzeichnen für prozedurales Gedächtnis (Nachzeichnen einer Figur während die Hand nur in einem Spiegel zu sehen ist), Wortfragmentergänzen für Priming (Vervollständigen eines Wortes, z.B. H_N_, nach unbewusster Präsentation des Wortes „HUND“), konditionierter Lidschlussreflex für klassische Konditionierung (z.B. wiederholte Paarung eines Tons mit einem Luftstoß auf das Auge, sodass später allein der Ton zu einer Lidschlussreaktion führt).

2.2.4.3. Einflussfaktoren auf Gedächtnisfunktionen

Vergessen und Interferenz

Obwohl das menschliche Gedächtnis prinzipiell riesige Mengen an Informationen speichern kann, kennen wir alle Situationen, in denen wir scheinbar die einfachsten Dinge vergessen, z.B. wo wir den Schlüssel hingelegt haben oder wie der neue Kollege nochmal hieß. Hier ist allerdings die Frage, ob die jeweilige Information tatsächlich vergessen oder nur momentan nicht abrufbar ist [2].

Bereits um 1885 beschrieb der berühmte Gedächtnisforscher Ebbinghaus die sogenannte Vergessenskurve. Er zeigte, dass nach dem Lernen einer Liste von sinnlosen Silben bereits nach 20 Minuten nur noch 60% der Inhalte erinnert werden, nach 60 Minuten sind es noch 45% und nach ca. vier Wochen bleiben nur ca. 20% des Materials erhalten. Dabei fiel jedoch auf, dass nicht alle Informationen gleichermaßen gut behalten bzw. gleichermaßen vergessen werden. Von besonderer Bedeutung war die Position, an der die jeweilige Information gelernt wurde. Solche Informationen, die ganz am Anfang gelernt werden, werden besonders gut behalten – ein Phänomen, das Primacy Effekt genannt wird. Informationen die ganz zum Schluss gelernt werden, bleiben ebenfalls besser in Erinnerung – dieses Phänomen wird als Recency Effekt bezeichnet. Inhalte, die in der Mitte der Liste (oder der Lernphase) gelernt werden, werden also besonders häufig vergessen. Daher ist es ratsam, in einer intensiven Lernphase ab und zu das Lernthema zu wechseln, um für das Gehirn möglichst viele „Anfänge“ und „Enden“ herzustellen, um somit die Positionseffekte des Lernens optimal zu nutzen.

Wodurch kommt es jedoch zu einem Vergessen? Hierzu gibt es verschiedene Theorien. Die Theorie des Spurenzerfalls geht davon aus, dass neuronale Verknüpfungen, die an der Speicherung eines Gedächtnisinhalts beteiligt sind, über die Zeit hinweg „zerfallen“. Je mehr Zeit nach dem Lernen vergeht, desto stärker zerfallen die Gedächtnisspuren und können irgendwann nicht mehr abgerufen werden. Dem Spurenzerfall kann durch Wiederholung und Übung entgegengewirkt werden, wodurch die Gedächtnisspuren immer wieder aufs Neue gestärkt werden.

Eine andere Theorie besagt, dass einmal gespeicherte Informationen für immer im Gedächtnis bleiben, jedoch durch fehlende oder inadäquate Abrufhinweise nicht mehr abgerufen werden können. Abrufhinweise sind zum Beispiel mit der Erinnerung verknüpfte Informationen, die die Erinnerung aktivieren können (beispielsweise ein Geruch, der uns an unseren letzten Urlaub erinnert). Belege für diese Theorie kommen z.B. von Amnesie-Patienten, die sich zum Teil über Monate hinweg nicht an einzelne Informationen erinnern können, irgendwann können diese Erinnerungen aber wieder zugänglich werden. Aber auch falls eine Erinnerung nie wieder abgerufen werden kann, kann daraus nicht geschlossen werden, dass die Information tatsächlich verloren ist. Es ist durchaus denkbar, dass lediglich kein Zugriff mehr darauf besteht – allerdings kann diese Annahme empirisch mit den bisherigen Methoden nicht getestet werden.

Abbildung 4: Interferenzeffekte (eigene Darstellung)
Abbildung 4: Interferenzeffekte (eigene Darstellung)

Einer anderen Theorie zu Folge vergessen wir Inhalte, weil sich alte, bereits gespeicherte Inhalte und neue Inhalte gegenseitig stören – ein Phänomen, das als Interferenz bezeichnet wird [2]. Zum einen kann es vorkommen, dass neu gelernte Inhalte die Erinnerung an alte Inhalte stören. Diese Form der Interferenz wird retroaktive Interferenz genannt, weil das Neue rückwirkend das Alte beeinflusst (Abbildung 4). Wenn wir einen neuen Patienten kennenlernen, kann es zum Beispiel sein, dass wir uns den Namen des neuen Patienten einprägen, wir uns dann aber nicht mehr an den Namen des vorherigen Patienten erinnern können. Andersherum ist es jedoch auch möglich, dass alte Inhalte die Aufnahme von neuen Informationen stören. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn wir uns an den Namen des neuen Patienten erinnern wollen, uns aber nur der Name des vorherigen Patienten einfällt. Dieser Effekt wird als proaktive Interferenz bezeichnet, weil das Alte vorwärts gerichtet das Neue stört. Die Ursache für beide Formen der Interferenz ist noch nicht abschließend geklärt. Denkbar ist eine Art „Antwortwettbewerb“, in dem beide Inhalte um den Abruf konkurrieren und je nach Situation entweder die eine oder die andere Erinnerung die Oberhand gewinnt. Alternativ könnten die Inhalte auch aktiv verlernt oder durch die interferierenden Inhalte überschrieben werden und damit langfristig verloren gehen. Neuere Befunde sprechen jedoch eher für einen Antwortwettbewerb statt eines Überschreibens.

Verarbeitungstiefe

Wie gut Lerninhalte über die Zeit hinweg behalten werden, ist auch abhängig davon, wie intensiv sie in der Lernphase verarbeitet werden, ein Phänomen das als Verarbeitungstiefe bezeichnet wird [2]. Inhalte, die in der Lernphase tief verarbeitet werden, können später besser abgerufen werden als Inhalte, die nur oberflächlich verarbeitet werden. Mit tiefer Verarbeitung ist dabei eine inhaltliche Beschäftigung mit der Bedeutung der Inhalte gemeint.

Die Verarbeitungstiefe allein ist jedoch nicht ausschlaggebend für die Gedächtnisleistung. Wichtig ist vielmehr das Ausmaß der Transferangemessenheit der Verarbeitung, also wie gut die Prozesse, die beim Lernen ablaufen, mit den Prozessen übereinstimmen, die beim Abruf benötigt werden. Ist für den Abruf eine tiefe Verarbeitung nötig, z.B. wenn komplexe Abläufe frei reproduziert werden müssen, so führt eine tiefe Verarbeitung während der Lernphase zu besseren Erinnerungsleistungen. Ist beim Abruf jedoch eher eine oberflächliche Verarbeitung gefragt, z.B. ein reines Wiedererkennen, so führt eine oberflächliche Verarbeitung während des Lernens zu besseren Abrufergebnissen. Insofern kann das „Wiedererkennungslernen“ für eine Multiple-Choice-Klausur adäquat sein, nicht aber für eine mündliche Prüfung oder gar für die spätere ärztliche Tätigkeit.

Kontexteffekte

Wenn neue Inhalte gelernt werden, werden immer auch gleichzeitig bestimmte Aspekte der Lernumgebung mit gespeichert, wie z.B. die räumliche Umgebung, bestimmte Gerüche oder Geräusche. Die Wahrscheinlichkeit, sich erfolgreich an gelernte Inhalte zu erinnern, ist dabei größer, wenn der Abruf in dem gleichen Kontext stattfindet, in dem die Inhalte gelernt wurden. Ein klassisches Experiment hat diese Kontexteffekte an Versuchsteilnehmern einer Tauchschule getestet, die eine Liste von Wörtern entweder an Land oder unter Wasser lernen sollten (Abbildung 5) [2], [3]. Ein anschließender Gedächtnistest erfolgte erneut entweder an Land oder unter Wasser. Es zeigte sich, dass die Erinnerungsleistung jeweils besser war, wenn der Abruf im gleichen Kontext wie das Lernen stattfand, d.h. diejenigen, die an Land gelernt hatten, konnten sich auch an Land besser erinnern und umgekehrt. So kann es beispielsweise vorkommen, dass sich ein Arzt besser an Details zu einem Patienten erinnert, wenn er diesen im Krankenhaus sieht als wenn er ihm auf dem Spielplatz oder im Supermarkt begegnet.

Abbildung 5: Zur Untersuchung des Kontexteffekts lernten 16 Versuchsteilnehmer Wortlisten (bestehend aus jeweils 36 Wörtern) entweder unter Wasser oder an Land. Der Abruf, in Form eines freien Erinnerns (Reproduktion), erfolgte erneut entweder unter Wasser oder an Land, sodass sich insgesamt vier Versuchsbedingungen ergaben. Alle Versuchsteilnehmer nahmen in randomisierter Reihenfolge an allen vier Versuchsbedingungen teil. Für die vier Versuchsbedingungen wurden vier unterschiedliche Wortlisten benutzt, die ebenfalls randomisiert den Versuchsbedingungen zugeordnet wurden. In der Abbildung sind die Mittelwerte und Standardfehler der Abrufleistung in den vier Versuchsbedingungen dargestellt. Die Versuchsteilnehmer erinnerten mehr Wörter, wenn der Abruf im gleichen Kontext wie das Lernen stattfand (Wasser-Wasser bzw. Land-Land). (Eigene Darstellung, modifiziert nach [3])
Abbildung 5: Zur Untersuchung des Kontexteffekts lernten 16 Versuchsteilnehmer Wortlisten (bestehend aus jeweils 36 Wörtern) entweder unter Wasser oder an Land. Der Abruf, in Form eines freien Erinnerns (Reproduktion), erfolgte erneut entweder unter Wasser oder an Land, sodass sich insgesamt vier Versuchsbedingungen ergaben. Alle Versuchsteilnehmer nahmen in randomisierter Reihenfolge an allen vier Versuchsbedingungen teil. Für die vier Versuchsbedingungen wurden vier unterschiedliche Wortlisten benutzt, die ebenfalls randomisiert den Versuchsbedingungen zugeordnet wurden. In der Abbildung sind die Mittelwerte und Standardfehler der Abrufleistung in den vier Versuchsbedingungen dargestellt. Die Versuchsteilnehmer erinnerten mehr Wörter, wenn der Abruf im gleichen Kontext wie das Lernen stattfand (Wasser-Wasser bzw. Land-Land). (Eigene Darstellung, modifiziert nach [3])

Solche Kontexteffekte finden sich nicht nur für den räumlichen Lernkontext, sondern auch für innere Zustände wie emotionale Stimmungen oder physiologische Erregung. So werden z.B. Inhalte, die in einer fröhlichen Stimmung gelernt wurden, besser erinnert, wenn sich die Person beim Abruf ebenfalls in einer fröhlichen Stimmung befindet. Zudem konnten sich Versuchsteilnehmer, die unter Einfluss bestimmter Drogen (z.B. Marihuana) eine Lernphase absolviert hatten, später besser an die gelernten Inhalte erinnern, wenn der Abruf erneut unter Einfluss der gleichen Droge stattfand. Daher ein Rat an alle Studierenden: Falls Sie nicht vorhaben, unter Drogeneinfluss in eine Prüfung zu gehen (was aus verschiedenen Gründen nicht empfehlenswert ist), sollten Sie auch in der Lernphase auf Drogen (auch Stimulanzien) verzichten.

Kontexteffekte des Erinnerns können dadurch erklärt werden, dass die Informationen des inneren und äußeren Kontexts während des Lernens als Teil der gesamten Lernerfahrung zusammen mit den eigentlichen Lerninhalten abgespeichert werden. Erfolgt dann der Abruf im gleichen Kontext wie das Lernen, helfen die Kontextfaktoren als zusätzliche Abrufhinweise, die eigentlich interessierenden Lerninhalte zu aktivieren und abzurufen. 

Gedächtnisverzerrungen

Wenn es uns gelingt, uns an bestimmte Gedächtnisinhalte zu erinnern, können wir dann sicher sein, dass die Erinnerung korrekt ist? Zahlreiche Befunde der Gedächtnispsychologie belegen: nein. Einzelne Erinnerungen können sehr stark von den tatsächlichen Ereignissen abweichen, verzerrt oder gar gänzlich falsch sein, ohne dass wir dies bemerken [2], [4]. In einem klassischen Test zur Untersuchung von falschen Erinnerungen (dem Deese/Roediger/McDermott-Paradigma) lernen Versuchsteilnehmer Listen von Wörtern (z.B. weiß, Nacht, Katze, grau, Beerdigung etc.), die thematisch mit einem bestimmten Begriff verknüpft sind (in diesem Beispiel: schwarz). Der thematisch verknüpfte Begriff selbst kommt in der Lernliste nicht vor, allerdings geben bei einem späteren Gedächtnistest bis zu 84% der Probanden fälschlicherweise an, sich z.B. an das Wort „schwarz“ zu erinnern. Diese Befunde verdeutlichen gleichzeitig ein wichtiges Funktionsprinzip des Gedächtnisses: um Ressourcen zu sparen, neigt unser Gedächtnis dazu, das Wesentliche eines Ereignisses zu abstrahieren (auch Schema genannt) und die restlichen Details zu vernachlässigen. Statt alle einzelnen Wörter der Liste zu behalten, bleibt im Gedächtnis zum Beispiel hängen, dass die Wörter alle etwas mit „schwarz“ zu tun hatten.

Erinnerungen können auch durch die Art des Fragens verzerrt werden, z.B. durch Suggestivfragen. In einer Studie wurde Versuchsteilnehmern ein Video von einem Unfall gezeigt und danach gefragt, wie schnell die Autos in dem Video fuhren als sie kollidierten und ob zerbrochenes Glas zu sehen war. Das Wort „kollidieren“ wurde dabei durch verschieden starke Ausdrücke ersetzt, die eine mehr oder weniger hohe Geschwindigkeit suggerierten (von „berühren“ über „zusammenstoßen“ bis hin zu „ineinander krachen“). Je stärker das Wort in der Frage formuliert war, desto schneller schätzten die Versuchsteilnehmer die Geschwindigkeit ein und desto öfter gaben sie an, Glasscherben gesehen zu haben, obwohl tatsächlich in dem Video kein zerbrochenes Glas zu sehen war. Besonders dramatische Auswirkungen können solche Gedächtnisverzerrungen oder falschen Erinnerungen im Rahmen von Zeugenaussagen haben. Aber auch im medizinischen Kontext spielen Gedächtnisverzerrungen eine wichtige Rolle, sowohl auf Seiten des Patienten als auch auf Seiten des Arztes. So können Patienten zum Teil bestimmte zeitliche Abläufe oder Symptome nicht mehr detailgetreu wiedergeben. Suggestivfragen seitens des Arztes können hier zusätzlich die Erinnerungen verfälschen.

Korsakow-Syndrom
Das Korsakow-Syndrom wird durch Alkoholmissbrauch verursacht und zeigt sich unter anderem durch Gedächtnisstörungen in Form von ausgeprägten Erinnerungslücken. Solche Erinnerungslücken werden häufig spontan mit frei erfundenen Informationen oder Erzählungen gefüllt, sogenannten Konfabulationen. Typischerweise geben diese Patienten bei wiederholten Nachfragen immer andere oder abweichende, sich zum Teil widersprechende Antworten auf die gleiche Frage. Meist halten Patienten diese teils bizarren Erzählungen selbst für Erinnerungen und tragen diese mit großer Überzeugung vor.

Gedächtnis ist ein re-konstruktiver Prozess. Erinnern ist kein Hervorholen statischer Speicherinhalte, sondern eine mehr oder weniger exakte Wiederherstellung eines früheren mentalen/neuronalen Zustands.

Schlaf und Schlafentzug

Schlafentzug (Schlafdeprivation) und Schlafstörungen führen zu einer Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung. Einerseits führt unzureichender Schlaf zu reduzierter Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit, wodurch die Enkodierung und der Abruf aus dem Gedächtnis erschwert werden. Andererseits spielt gesunder Schlaf vor allem für die Konsolidierung neu erworbener Lerninhalte eine wichtige Rolle [5]. Neue Lerninhalte werden langfristig besser behalten, wenn nach dem Lernen eine Schlafphase folgt. Während des Lernens sind bestimmte Nervenzellen und Bereiche des Gehirns aktiviert, die die Lerninhalte aufnehmen und enkodieren. Dieselben Nervenzellen und Hirnbereiche, die während des Lernens aktiv waren, werden im darauf folgenden Schlaf erneut aktiviert. Diese Re-Aktivierung (auch neuronales „Replay“ genannt) stärkt die Verknüpfungen zwischen den beteiligten Nervenzellen und kann zudem zur Entstehung neuer Verknüpfungen führen, wodurch die Gedächtnisinhalte gefestigt und in das bestehende Netzwerk aus Langzeiterinnerungen integriert werden. Bestimmte Schlafparameter wurden mit dem Replay von Lerninhalten im Schlaf in Zusammenhang gebracht, z.B. langsame Oszillationen (sog. Slow Oscillations, <1 Hz) und Schlafspindeln (11–15 Hz).

Erste Befunde deuten darauf hin, dass Schlaf sowie gezielte Schlafinterventionen (z.B. eine Verstärkung von Slow Oscillations durch elektrische Hirnstimulation) auch im medizinischen Kontext eingesetzt werden können, um gezielt therapeutisches Lernen zu verbessern, z.B. im Rahmen von Psychotherapie- und Rehabilitationsmaßnahmen.

2.2.4.4. Neuronale Mechanismen

Bei der Beschreibung des sensorischen Gedächtnisses haben wir bereits gelernt, dass viele verschiedene (sensorische) Hirnbereiche an der Aufnahme und Enkodierung von Gedächtnisinhalten (siehe Kapitel 2.1.) beteiligt sind. Für die langfristige Speicherung von deklarativen Gedächtnisinhalten spielt nun eine Hirnregion eine ganz besondere Rolle: der mediale Temporallappen, insbesondere der Hippokampus mit den angrenzenden Strukturen des entorhinalen Kortex, parahippokampalen Kortex und perirhinalen Kortex [1], [6]. Studien an Ratten und Affen haben gezeigt, dass die Läsion des medialen Temporallappens zu massiven Gedächtnisstörungen führt, insbesondere zu einer ausgeprägten Unfähigkeit, neue episodische Inhalte langfristig abzuspeichern (anterograde Amnesie, siehe unten). Folgestudien haben ergeben, dass die langfristige Speicherung von deklarativen Gedächtnisinhalten in einem zweistufigen Prozess erfolgt. Neu erworbene Informationen werden zunächst in sensorischen Bereichen des Neokortex enkodiert und vom Hippokampus und seinen angrenzenden Bereichen „zwischengespeichert“. Dabei dient der Hippokampus als eine Art Bindeglied, das die einzelnen Elemente eines Erlebnisses (Objekte, Geräusche, Ort, Zeit etc.), die in unterschiedlichen kortikalen Bereichen enkodiert wurden, zusammenhält. Die langfristige Speicherung der Inhalte erfolgt ebenfalls in den verschiedenen Regionen des Neokortex (v.a. temporal, parietal und frontal), allerdings sind die Verknüpfungen im Neokortex zunächst noch schwach und anfällig für Störungen. Um die Verknüpfungen der verschiedenen Elemente im Neokortex zu festigen (Konsolidierung), erfolgt ausgehend vom Hippokampus eine Reaktivierung der einzelnen Elemente, wodurch diese als zusammenhängende Episode gestärkt werden. Diese Reaktivierung und Konsolidierung erfolgt hauptsächlich (wie bereits erwähnt) im Schlaf, wenn das Gehirn von äußeren störenden Einflüssen abgeschottet ist [5].

Die verschiedenen Formen des nondeklarativen Gedächtnisses sind abhängig von unterschiedlichen Hirnstrukturen [1], [6]. Das prozedurale Gedächtnis basiert vor allem auf dem Striatum und dem Kleinhirn, während Priming im Neokortex stattfindet. Konditionierung basiert je nach Art der konditionierten Reaktionen auf dem Kleinhirn (für motorische Reaktionen) oder der Amygdala (für emotionale Reaktionen). Die Amygdala spielt darüber hinaus auch eine verstärkende Rolle bei der Speicherung emotional relevanter deklarativer Gedächtnisinhalte. Zwischen Amygdala und Hippokampus bestehen entsprechend enge Verbindungen. Das Kurzzeitgedächtnis, sowie der über das Kurzzeitgedächtnis vermittelte Abruf aus dem Langzeitgedächtnis, wird hauptsächlich vom Präfrontalkortex gesteuert.

Auf zellulärer Ebene erfolgt die langfristige Speicherung von Gedächtnisinhalten durch Prozesse der synaptischen Plastizität, wie z.B. Langzeitpotenzierung (LTP) und Langzeitdepression (LTD) (siehe Kapitel 2.1.).

2.2.4.5. Gedächtnisstörungen

Wie wichtig das Gedächtnis für unser alltägliches Leben ist, wird dann besonders deutlich, wenn es nicht mehr einwandfrei funktioniert. Eine Störung des Gedächtnisses, die sich in einer zeitlichen und/oder inhaltlichen Beeinträchtigung der Erinnerung zeigt, wird als Amnesie bezeichnet [1]. Amnesien entstehen meist als Folge eines traumatischen Ereignisses, z.B. einer Schädel-Hirn-Verletzung, Hypoxie (Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff), Intoxikation (z.B. Alkohol) oder auch eines psychischen Traumas. Man unterscheidet zwischen einer retrograden und einer anterograden Amnesie (Abbildung 6). Bei der retrograden Amnesie können Dinge, die vor dem traumatischen Ereignis passiert sind, nicht mehr erinnert werden. Dieser Form der Amnesie liegt meist ein gestörter Abruf zugrunde. Die Gedächtnisstörung ist dabei häufig zeitlich „graduiert“, d.h. Erinnerungen die länger zurückliegen können meist noch besser abgerufen werden, während Inhalte, die erst vor Kurzem gespeichert wurden, stärker betroffen sind. Der Zeitraum, an den sich die Patienten nicht erinnern können, kann sehr unterschiedlich sein. Während einigen Patienten nur die Erinnerung für wenige Stunden oder Tage fehlt (z.B. die Tage vor einem Unfall), können sich andere Patienten zum Teil an mehrere Jahre vor einem Trauma nicht mehr erinnern.

Abbildung 6: Formen der Amnesie (eigene Darstellung)
Abbildung 6: Formen der Amnesie (eigene Darstellung)

Bei der anterograden Amnesie können keine neuen Gedächtnisinhalte eingespeichert werden, d.h. diese Form der Gedächtnisstörung betrifft Inhalte, die nach dem traumatischen Ereignis geschehen sind. Patienten, die unter einer anterograden Amnesie leiden, weisen eine gestörte Konsolidierung auf, d.h. eine gestörte Übertragung in das Langzeitgedächtnis, haben aber meist ein intaktes Kurzzeitgedächtnis und können daher aktuellen Abläufen folgen. Sie können sich jedoch nach einiger Zeit (oft nur wenige Minuten) nicht mehr an die Geschehnisse erinnern, wodurch es zu charakteristischen „repetetiven“ (sich wiederholenden) Unterhaltungen kommt.

Anterograde und retrograde Amnesien können sowohl einzeln als auch in Kombination auftreten. Nach einem Schädel-Hirn-Trauma findet sich meist eine ausgeprägte anterograde Amnesie in Kombination mit einer zeitlich graduierten retrograden Amnesie. In vielen Fällen bilden sich beide Störungen nach einiger Zeit zurück. Bei leichten bis mittelschweren Amnesien kann ein Training von Lernstrategien oder die Vermittlung externer Gedächtnisstützen (Kompensationsstrategien) therapeutisch eingesetzt werden. Die Symptome und Folgen einer Amnesie werden zwar plakativ aber anschaulich in dem bekannten Film „Memento“ dargestellt.

Aufgrund von schweren epileptischen Anfällen wurden einem in der neurowissenschaftlichen Literatur als Patient H. M. bekannten Mann im Jahr 1953 (im Alter von 27 Jahren) große Bereiche des Temporallappens, inklusive des Hippocampus und angrenzender Bereiche, entfernt. In der Folge konnte H. M. keine neuen Erinnerungen mehr formen (anterograde Amnesie). Traf er eine unbekannte Person, konnte er sich normal mit dieser Person unterhalten, hatte jedoch bereits nach 5–10 Minuten vergessen, wie die Person hieß oder dass er sie überhaupt getroffen hatte. Auch 50 Jahre später hatte sich dieser Zustand nicht gebessert: H. M. konnte neue Inhalte nur für wenige Minuten behalten, wusste weder sein eigenes Alter, noch dass seine Eltern (bei denen er gelebt hatte) Jahre zuvor gestorben waren. Obwohl ältere Kindheitserinnerungen erhalten waren, hatte H. M. ebenfalls Probleme, sich an jüngere Ereignisse aus den 10 Jahren vor der Operation zu erinnern (retrograde Amnesie). H. M. war sich bewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er beschrieb seine Situation einmal so: „Jeder Tag steht für sich selbst … In diesem Moment erscheint mir alles ganz klar, aber was war davor? ... Es ist wie aus einem Traum aufzuwachen. Ich erinnere mich einfach nicht.“ [1]

Welche Teile des Gedächtnisses von einer Amnesie betroffen sind, hängt vor allem von ihrer Ursache ab. Bei Amnesien, die durch eine Schädigung des medialen Temporallappens (und hier vor allem des Hippokampus) verursacht sind (siehe Kasten zu Patient H. M.), ist fast ausschließlich das episodische Gedächtnis (autobiographische Erinnerungen) gestört, während das semantische Gedächtnis (allgemeines Weltwissen) sowie das nondeklarative Gedächtnis (Fähigkeiten und Fertigkeiten) erhalten bleiben. Auch allgemeine motorische, perzeptuelle und kognitive Fähigkeiten sind bei diesen Formen von Amnesie üblicherweise nicht beeinträchtigt (z.B. Laufen, Intelligenz, Wahrnehmung, Denken, Problemlösen, Sprache, soziale Fertigkeiten). Bei Amnesien, die durch eine großflächigere Hirnschädigung entstehen, wie z.B. bei demenziellen Erkrankungen oder dem Korsakow-Syndrom, können auch Teile des semantischen und nondeklarativen Gedächtnisses, sowie allgemeine kognitive, motorische, perzeptuelle und soziale Fertigkeiten beeinträchtigt sein.

Demenz ist eine schwerwiegende hirnorganische Erkrankung, deren Leitsymptom eine Störung des Gedächtnisses ist. Betroffene werden zunächst vergesslich, können später keine neuen Inhalte mehr speichern und vergessen schließlich auch relevante Informationen aus ihrer eigenen Geschichte, beispielsweise ihren eigenen Namen, wo sie wohnen, welche Familienmitglieder noch leben, etc. Dies kann auch dazu führen, dass Familienmitglieder und Freunde nicht mehr erkannt werden. Neben Gedächtnisstörungen kommt es außerdem zu einer Einschränkung der alltagspraktischen Fähigkeiten (Zubereitung von Mahlzeiten, Körperhygiene etc.) sowie zu räumlicher und zeitlicher Desorientierung (z.B. häufiges Verlaufen) und zu Störungen der Impulskontrolle und des Sozialverhaltens (z.B. aggressives Verhalten). Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Krankheit.

Störungen des Gedächtnisses können auch im Rahmen anderer Erkrankungen auftreten. Bei der dissoziativen Amnesie sind Patienten ganz oder teilweise unfähig, sich an vergangene, meist traumatische, Ereignisse zu erinnern. Bei Absencen, einer milden Form der Epilepsie mit kurzem Bewusstseinsverlust (wenige Sekunden), fehlt den Patienten oft die Erinnerung für die Phase der Bewusstlosigkeit. Im Rahmen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die in Folge eines psychischen Traumas auftritt (z.B. Unfall oder Kriegserfahrung), kommt es häufig zu wiederholtem sehr intensivem Wiedererleben der traumatischen Erinnerungen (oder Erinnerungsfragmente) bei gleichzeitiger Unfähigkeit, diese episodisch kohärent zu erzählen. Bei der postoperativen kognitiven Dysfunktion (POCD, englisch: post-operative cognitive dysfunction) kann es besonders bei älteren Patienten nach einer Operation ebenfalls zu vorübergehenden Störungen des Gedächtnisses kommen. In der Neurologie werden darüber hinaus reversible, progressive und stabile Formen von Amnesie unterschieden, sowie organisch und psychogen bedingte Amnesien.


References

[1] Rosenzweig MR, Breedlove SM, Watson NV. Learning and Memory: Biological Perspectives. In: Rosenzweig MR, Breedlove SM, Watson NV, editors. Biological Psychology: An introduction to behavioral and cognitive neuroscience. 4th ed. Sunderland: Sinauer Associates; 2005.
[2] Buchner A, Brandt M. Gedächtniskonzeption und Wissensrepräsentation. In: Müsseler J, editor. Allgemeine Psychologie. 2nd ed. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag; 2007.
[3] Goddon DR, Baddeley AD. Context-dependent memory in two natural environments: On land and underwater. Br J Psychol. 1975;66(3):325-31. DOI: 10.1111/j.2044-8295.1975.tb01468.x
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