Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


3.3.3. Arbeitsbedingungen von Ärzten

 Sophie E. Groß 1
Holger Pfaff 2


1 LVR-Institut für Versorgungsforschung, Köln, Germany
2 Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR), Universität zu Köln, Köln, Germany

3.3.3.1 Einleitung

Für einen Großteil der Bevölkerung hat die Ausübung eines Berufs vorrangig die Bedeutung, ein regelmäßiges Einkommen zu erwirtschaften und den Lebensunterhalt zu sichern. Sie bietet aber auch eine Plattform für persönliche Lernerfolge, für das Ausloten der persönlichen Leistungsfähigkeit und das Erreichen selbst gesetzter Ziele. Durch das Ausüben eines Berufs und das Ansehen, das dem Beruf innewohnt, wird im erwachsenen Leben eine soziale Identität aufgebaut und ein sozialer Status außerhalb des familiären Hintergrundes erreicht und beibehalten. Einen Beruf auszuüben oder einer Beschäftigung nachzugehen, ist daher für das Selbstwertgefühl und das gesundheitliche Wohlbefinden von großer Bedeutung. Andererseits kann der Beruf auch Quelle potenziell gesundheitsgefährdender Belastungen sein [1].

Die Medizinsoziologie versucht in Anlehnung an das Mutterfach der Soziologie über theoretische und empirische Wege die soziale Wirklichkeit deutend zu verstehen und ursächlich zu erklären [2]. Als „multiparadigmatische Wissenschaft“ [3] kann die Soziologie bei der Betrachtungsweise komplexer gesellschaftlicher Phänomene verschiedene Blickwinkel einnehmen. Unterschieden wird etwa zwischen mikro-, meso- und makrotheoretischen Perspektiven [3]. So interessiert sich die Medizinsoziologie auf der Makroebene für gesellschaftliche Strukturen, Institutionen und Gestaltungsmöglichkeiten, wie z.B. das Gesundheitssystem. Auf der Mesoebene betrachtet die Medizinsoziologie Organisationen und Netzwerke als Orte der Behandlung von Krankheit und Gesundheit, wie z.B. das Krankenhaus. Medizinsoziologen, die die Mikroebene in den Blick nehmen, interessieren sich für die individuellen und kollektiven Handlungen der Akteure im Gesundheitswesen, wie z.B. das Gesundheitsverhalten des Bürgers oder die Arzt-Patient-Interaktion in der Arztpraxis [4]. Auf dieser Grundlage wird im Folgenden eine medizinsoziologische Analyse der Arbeitsbedingungen von Ärzten durch die verschiedenen Blickwinkel der mikro-, meso- und makrotheoretischen Perspektive vorgenommen.

3.3.3.2 Der soziologische Blick auf die Arbeitsbedingungen von Ärzten

Die Makroperspektive: Gesellschaft und Arbeitsbedingungen der Ärzte

Die Arbeitsbedingungen von Ärzten in Deutschland haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Arbeitsbedingungen von Ärzten vor dem Hintergrund des Gesundheitssystems, der Institutionen und der gesellschaftlichen Strukturen, in denen Ärzte ihren Beruf ausüben, betrachtet.

Heute werden medizinische Leistungen vermehrt unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit und Effizienz betrachtet. Die damit verbundenen veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen konfrontieren Ärzte mit neuen Herausforderungen. Diese können sich einschränkend auf die berufliche Handlungsautonomie von Ärzten auswirken. Auf der einen Seite wird das Angebot an diagnostischen und therapeutischen Verfahren immer weiter ausgebaut und verbessert, auf der anderen Seite werden Ärzte in ihren Entscheidungsbefugnissen durch eine vermehrte Standardisierung und ökonomische Regulierungen in ihrem patientenorientierten und beruflichen Handlungsspielraum eingeschränkt. In der Folge sind Konflikte zwischen medizinischer Autonomie und ökonomischer Rationalität vorprogrammiert, welche auch die Arzt-Patient-Beziehung beeinträchtigen können [5].

Ein weiterer Wandel auf der gesellschaftlichen Ebene, der Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen haben kann, ist der von einer patriarchalen Medizin hin zu einer patientenorientierten Medizin. Dieser Wandel wird durch den Trend zum informierten, aufgeklärten Patienten, der mit Gesundheitskompetenz ausgestattet ist oder wird, zusätzlich gestützt. Dies zieht nicht nur eine veränderte Kommunikation und veränderte Machtverhältnisse zwischen Arzt und Patient auf der Mikroebene nach sich, sondern verändert auch auf der Makroebene die ärztliche Vorrangstellung im deutschen Gesundheitssystem.

Die veränderten ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen beeinflussen die Arbeitsbedingungen der Ärzte erheblich, so z.B. die Autonomie des Arztes und die Kommunikations- und Machtverhältnisse in der Arzt-Patient-Beziehung.

Mesoebene: Organisationsformen und Arbeitsbedingungen der Ärzte

Ärzte gehen ihrem Beruf in Organisationen nach, beispielsweise in einem Krankenhaus, einer Arztpraxis oder einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ). Die Arzt-Patient-Beziehung im Kontext des Krankenhauses ist seit den frühen Arbeiten von Parsons in den USA und von Siegrist und Raspe in Deutschland fester Gegenstand der Medizinsoziologie [6], [7], [8]. Nach Parsons kann eine Organisation als ein soziales Subsystem betrachtet werden, welches einerseits von den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des übergeordneten Systems auf der Makroebene abhängig ist und andererseits die Daseinsberechtigung aus dem Ergebnis der Versorgungsleistung auf der Mikroebene zieht. Laut Parsons ist es die dauerhafte Anpassung der Organisationen auf der Mesoebene an die strukturellen und politischen Rahmenbedingungen, die im Endeffekt die Qualität ärztlichen Handelns bestimmt [9].

Nach Mintzberg (1993) basiert jegliche organisationale Tätigkeit auf zwei fundamentalen und gleichzeitig gegensätzlichen Voraussetzungen: Die Aufteilung der Arbeit in unterschiedliche Aufgabenbereiche und die Koordination dieser Bereiche, um die Tätigkeiten zu vollenden [10]. Insbesondere im Gesundheitswesen herrscht Arbeitsteilung vor, einerseits innerhalb der und andererseits zwischen den Professionen, was zu einem hohen Grad an Spezialisierung führt. Diese Entwicklung hat zu Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zwischen den Gesundheitsprofessionen geführt. Interprofessionelle Koordination in der Patientenversorgung wird als eine der wichtigsten Herausforderungen für Gesundheitsorganisationen im 21. Jahrhundert angesehen [11]. Ausgehend von dieser Perspektive sollte in einer Gesundheitsorganisation, wie beispielsweise einem Krankenhaus, interprofessionelle Koordination intern, also zwischen den Mitgliedern der Organisation, und extern, beispielsweise zwischen dem niedergelassenen und dem stationären Bereich, erfolgen (s. Kapitel 3.3.4.).

Des Weiteren ist das deutsche Gesundheitssystem durch eine Trennung in einen ambulanten und einen stationären Bereich gekennzeichnet. Aufgrund der sektoralen Trennung der medizinischen Leistungserbringung kann es an den Schnittstellen bei der Versorgung zu Informationsverlust und – als mögliche Folge davon – zu Versorgungsdiskontinuitäten und Behandlungsfehlern kommen. Defizite in Bezug auf den Informationsfluss an Schnittstellen können außerdem zu arbeitsbezogenem Disstress auf Seiten der Ärzte führen und dadurch die Arzt-Patient-Interaktion stören. Nach Lazarus und Folkman (1984) entsteht Disstress, wenn externe oder interne Anforderungen in der subjektiven Wahrnehmung die individuellen Bewältigungsressourcen übersteigen [12]. Ärzte nehmen eine effektive interne und externe Koordination als eine Ressource im Umgang mit arbeitsbezogenem Disstress wahr und empfinden ein funktionierendes berufliches Netzwerk sowie eine gute Zusammenarbeit als hilfreich für eine gute Arzt-Patient-Kommunikation.

Auf der Mesoebene müssen Ärzte in der Organisation, in der sie ihrem Beruf nachgehen, eine dauerhafte Anpassungsleistung an politische, gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen erbringen und vor allem mit der allseits vorhandenen interprofessionellen Arbeitsteilung souverän umgehen, um die Qualität des ärztlichen Handelns vor Ort zu sichern.
 

Die Mikroebene: Arztaufgaben, Arzt-Patient-Interaktion und Belastung-Ressourcen-Balance

Parsons erachtet Handlungen auf der Mikroebene als konstitutive Elemente sozialer Systeme und verbindet damit mikro- und makrotheoretische Perspektiven. Er betrachtet Handlungen nicht isoliert, sondern im Kontext der strukturellen und funktionalen Aspekte des jeweiligen Sozialsystems [13]. Der Aufbau einer Arzt-Patient-Beziehung und die Kommunikation zwischen Arzt und Patient im Zuge der Diagnostik und Therapieplanung sind Hauptaufgaben eines praktizierenden Arztes und nehmen gerade im beruflichen Kontext einen hohen Stellenwert ein. Allerdings haben Ärzte, besonders im niedergelassenen Bereich, in der Regel eine Doppelrolle inne: einerseits sind sie Gesundheitsdienstleister und andererseits sind sie verantwortlich für die Organisation und ökonomische Effizienz ihrer Praxis. In der Konsequenz sind sie konfrontiert mit der Herausforderung, ein Gleichgewicht zwischen der Qualität der Patientenversorgung, der Praxisorganisation und der ökonomischen Effizienz der Praxis zu finden. Ein hoher Patientendurchlauf kann auf Seiten des Arztes Disstress auslösen. Insgesamt können starke berufliche Belastungen bei Ärzten zu gesundheitlichen Problemen wie Burnout, Fatigue oder Depressionen führen, Konflikte zwischen Arbeit und Privatleben nach sich ziehen und/oder die Arzt-Patient-Kommunikation sowie die Versorgung der Patienten negativ beeinflussen.

Ärzte können in ihrem Arbeitserleben aber auch auf Ressourcen im Umgang mit den Arbeitsanforderungen zurückgreifen. Arbeitsbezogene Ressourcen beziehen sich auf Aspekte der Erwerbsarbeit, die Arbeitsbelastungen reduzieren und bei der Zielerreichung und Bewältigung von Berufsproblemen hilfreich sind. Ressourcen können den Belastungs- und Beanspruchungs­faktoren im Arbeitsumfeld entgegenwirken und machen die ärztliche Tätigkeit attraktiv. Die Ressourcen können physischer, psychischer, sozialer und organisationaler Natur sein [14]. Richter und Hacker unterscheiden zwischen externen Ressourcen (z.B. soziale Unterstützung, Autonomie, Gratifikationen) und internen Ressourcen (z.B. Resilienz, Kontrollüberzeugung, kognitiven Fähigkeiten) [15].

Es bestehen Wechselwirkungen zwischen Belastungen und Ressourcen. Diese Wechselwirkungen werden im Anforderungs-Ressourcen-Modell [16] sowie im Stress-Puffer-Modell [17] thematisiert. Gemäß dem Anforderungs-Ressourcen-Modell werden die Ressourcen besonders dann bedeutsam, wenn Erwerbstätige hohen Arbeitsbelastungen ausgesetzt sind, wie dies bei Ärzten der Fall ist. Dem Stress-Puffer-Modell zufolge wird die Beziehung zwischen objektiver Belastung und subjektiver Beeinträchtigung umso stärker, je weniger soziale Unterstützung vorliegt. Soziale Unterstützung puffert gewissermaßen die negative Wirkung des Berufsstresses auf die Gesundheit ab und neutralisiert diese potentielle Wirkung.

Eine weitere wichtige Ressource in Heilberufen, die als Schutzfaktor gegen Arbeitsbelastungen angesehen werden kann, ist die Rolle der Patienten innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung. So sehen Ärzte vor allem den persönlichen Kontakt mit Patienten als eine große Ressource an. Die Social-Exchange-Theorie (SET) von Blau [18] ist ein möglicher Erklärungsansatz für die Wirkung dieser Art der Ressource. Die SET legt dar, dass Verpflichtungen durch eine Reihe von Interaktionen zwischen verschiedenen Parteien generiert werden, die in einer reziproken Interdependenz zueinanderstehen. Diese Verpflichtungen tendieren dazu, Reziprozitäten zu beinhalten. Reziprozitäten bauen auf Gegenseitigkeitsbeziehung auf, also einer Verpflichtung zum Geben und Nehmen [1], [19]. Dies bedeutet, dass ein Mangel an Reziprozität (wie beispielsweise Zuspruch und Information oder materielle oder immaterielle Gratifikationen) zwischen Versorger und Patient die Belastungen auf Seiten des Versorgers verstärken und das Risiko, an Burnout zu erkranken, erhöhen kann. Eine Untersuchung unter deutschen Chirurgen zeigte, dass etwa ein Viertel der deutschen Chirurgen berichteten, dass sie mit einer Kombination aus hoher Belastung und geringen Gratifikationen (geringe Reziprozität) in der Arbeit zu tun haben [20].

Die Arbeitsbelastungen der Ärzte können zu beruflichem Disstress und zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Ressourcen wirken als Schutzfaktor gegen die Arbeitsbelastungen und ihre negativen Auswirkungen.

 

 

3.3.3.3. Schlussbetrachtung

Ärzte müssen in ihrem Erwerbsleben eine dauerhafte Anpassungsleistung an politische, gesellschaftliche und ökonomische Rahmenbedingungen leisten und gleichzeitig eine hohe Versorgungsqualität gewährleisten. Die heutigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen im Gesundheitswesen verändern das Arbeitserleben der Ärzte und haben Auswirkungen auf die Gesundheit. Sie beeinflussen darüber hinaus die Kommunikation und Beziehung zwischen Arzt und Patient.


References

[1] Siegrist J, Theorell T. Socio-economic position and health: the role of work and employment. In: Siegrist J, Marmot M, editors. Social inequalities in health. New evidence and policy implications. Oxford, New York: Oxford University Press; 2006. p. 73–100. DOI: 10.1093/acprof:oso/9780198568162.001.0001
[2] Weber M. Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr Siebeck; 1985.
[3] Kneer G, Schroer M, editors. Handbuch Soziologische Theorien. 1st ed. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2009. DOI: 10.1007/978-3-531-91600-2
[4] Richter M. Medizin- und Gesundheitssoziologie. In: Endruweit G, Trommsdorff G, Burzan N, editors. Wörterbuch der Soziologie. 3rd ed. Konstanz, München: UVK; 2014. p. 287–92.
[5] Kälble K, Borgetto B. Soziologie der Berufe im Gesundheitswesen. In: Richter M, Hurrelmann K, editors. Soziologie von Gesundheit und Krankheit. 1st ed. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2016. p. 383–402. DOI: 10.1007/978-3-658-11010-9
[6] Raspe HH. Die Aufklärung des Krankenhauspatienten und das Problem des Hospitalismus [On informing in-patients, and the problem of hospitalism (author's transl)]. Dtsch Med Wochenschr. 1978 Dec 15;103(50):1998-2003.
[7] Siegrist J. Erfahrungsstruktur und Konflikt bei stationären Patienten. Zeitschrift für Soziologie. 1972;1(3):271–80. DOI: 10.1515/zfsoz-1972-0307
[8] Parsons T. Illness and the role of the physician: a sociological perspective. Am J Orthopsychiatry. 1951 Jul;21(3):452–60.
[9] Parsons T. Suggestions for a sociological approach to the theory of organizations-I. Adm Sci Q. 1956 Jun;1(1):63–85. DOI: 10.2307/2390840
[10] Mintzberg H. Structure in fives: Designing effective organizations. Engelwood Cliffs: Prentice Hall; 1993.
[11] Institute of Medicine (US) Committee on Quality of Health Care in America. Crossing the quality chasm: A new health system for the 21st century. Washington: National Academy Press; 2001.
[12] Lazarus RS, Folkman S. Stress, appraisal, and coping. New York: Springer; 1984.
[13] Parsons T. The social system. New York: Free Press; 1951.
[14] Demerouti E, Bakker AB, Nachreiner F, Schaufeli WB. The job demands-resources model of burnout. J Appl Psychol. 2001 Jun;86(3):499–512. DOI: 10.1037/0021-9010.86.3.499
[15] Richter P, Hacker W. Belastung und Beanspruchung: Streß, Ermüdung und Burnout im Arbeitsleben. Heidelberg: Asanger; 1998.
[16] Faltermaier T, Schulz I-M. Anforderungs-Ressourcen-Modell. In: Dorsch - Lexikon der Psychologie. 18th ed. Bern: Hogrefe; 2014.
[17] Klauer T. Stress-Puffer-Modell. In: Dorsch - Lexikon der Psychologie. 18th ed. Bern: Hogrefe; 2014.
[18] Blau PM. Exchange and power in social life. New York: Wiley; 1964.
[19] Gouldner AW. The norm of reciprocity: A preliminary statement. Am Soc Rev. 1960;25(2):161–78. DOI: 10.2307/2092623
[20] von dem Knesebeck O, Klein J, Grosse Frie K, Blum K, Siegrist J. Psychosocial stress among hospital doctors in surgical fields: results of a nationwide survey in Germany. Dtsch Arztebl Int. 2010 Apr;107(14):248-53. DOI: 10.3238/arztebl.2010.0248