Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


2.4.4. Höheres und hohes Alter

 Britta Müller 1


1 Institute of Medical Psychology and Medical Sociology, University of Rostock, Rostock, Germany

Die Erhaltung und Wiedererlangung von Gesundheit und Selbstständigkeit sowie der Umgang mit chronischen Erkrankungen sind für Menschen im Alter zentrale Lebensthemen. Daher richten sich ihre Erwartungen nicht nur darauf, dass sie im Krankheitsfall kompetent diagnostiziert und therapiert werden, sondern auch darauf, dass Ärzte und Ärztinnen fähig sind, sie menschlich anzusprechen und sich auf ihre körperlichen, psychischen und sozialen Besonderheiten einzustellen. Das setzt differenzierte Kenntnisse über die Lebenssituation sowie über Veränderungsprozesse und gesundheitliche Spezifika von Menschen im Alter voraus.

 

2.4.4.1. Definitionen: Alter und Altern

Der Begriff Alter hat zwei Bedeutungen. Erstens versteht man darunter das physikalisch durch die Zeit definierte Lebensalter einer Person. Es wird als chronologisches Alter (synonym: biografisches Alter, kalendarisches Alter) bezeichnet. Zweitens bezeichnet der Begriff die Lebensperiode der nachberuflichen Zeit. Der Eintritt in das Rentenalter ist von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, z.B. dem gesetzlich geregelten Renteneintrittsalter, abhängig.

Weitere Begriffe sind das subjektive Alter und das biologische Alter. Das subjektive Alter gibt an, wie alt sich eine Person fühlt. Das biologische Alter bezieht sich auf den Entwicklungs- und Verfallszustand von Körperfunktionen und -strukturen. Chronologisches, subjektives und biologisches Alter können stark voneinander abweichen. Aktuell liegt z.B. das subjektive Alter von Personen ab 65 Jahren in Deutschland gut sieben Jahre unter dem chronologischen Alter.

Der Begriff Altern kennzeichnet die lebenslangen Prozesse und Mechanismen des Älterwerdens. Er umfasst die individuellen Veränderungsprozesse innerhalb der Lebensspanne, die in gesellschaftliche Prozesse des sozialen Wandels eingebettet sind.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die fernere Lebenserwartung für Menschen im Alter durch Verbesserungen des Lebensstandards und Gesundheitsverhaltens sowie durch den medizinischen Fortschritt in den meisten Ländern der Welt deutlich erhöht (vgl. Kapitel 2.7.2.). Inzwischen umfasst die Lebensphase Alter oft mehrere Jahrzehnte. Zudem sind Personen, die gegenwärtig in den Ruhestand wechseln, erheblich gesünder und selbstständiger als Gleichaltrige früherer Geburtsjahrgänge.

Durch diese Entwicklungen ist die Gruppe alter Personen hinsichtlich ihrer Gesundheit und Selbstständigkeit heterogener geworden. Diesem Umstand wird dadurch Rechnung getragen, dass zwischen Personen im höheren und hohen Alter unterschieden wird. Eine feste Altersgrenze existiert nicht. Aktuell gehen die meisten Menschen in Deutschland um das 85. Lebensjahr herum in das hohe Alter über.

Merkmale des höheren Alters (synonym: junges Alter) sind eine vielfältige Selbstgestaltung der Aktivitäten (z.B. Reisen, Hobbys, Ehrenamt) bei weitgehendem Fehlen nicht-kompensierbarer gesundheitlicher Einschränkungen.

Das hohe Alter (synonym: altes Alter, Hochaltrigkeit) ist durch eine Zunahme körperlicher und kognitiver Einbußen und Krankheiten gekennzeichnet. Die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Kompensation werden geringer. Das soziale Netzwerk reduziert sich und das Aktivitätsniveau sinkt deutlich.

 

2.4.4.2. Merkmale des Alterns

Altern ist ein multidimensionaler und multidirektionaler Prozess. Er weist große interindividuelle Unterschiede auf, die mit steigendem Lebensalter zunehmen. Zudem ist Altern durch Plastizität gekennzeichnet.

 

Multidimensionalität

Alternsprozesse weisen verschiedene Dimensionen auf. Physisches Altern vollzieht sich auf Zellebene, Organebene und auf der Ebene der zentralnervösen Regulation. Psychisches Altern beinhaltet Veränderungen der Wahrnehmungs-, Denk- und Gedächtnisleistungen, der Motivation und der Affekte. Soziales Altern umfasst die Veränderungen sozialer Rollen, Aktivitäten und sozialer Netzwerke. Annahmen zu Netzwerkänderungen im Alter sind in zwei Theorien enthalten [1]:

Sozioemotionale Selektivitätstheorie (L. Carstensen): Die Motive für soziale Interaktionen verändern sich mit dem Alter. Das Emotionsmotiv (Eingehen von Interaktionen, um sich sicher und positiv zu fühlen) wird wichtiger, das Wissensmotiv (durch Interaktion Wissbegier und Neugierde befriedigen) nimmt in seiner Bedeutung ab (Abbildung 1).

Modell des sozialen Konvois (T.C. Antonucci): Soziale Netzwerke sind über den Lebenslauf hinweg sowohl stabil als auch veränderlich. Der innere Kern des Netzwerkes - hierzu gehören Partner, Kinder, Eltern und enge Freunde – ist in seiner Größe und Zusammensetzung über die Zeit hinweg sehr stabil (innerer Kreis). Verkleinerungen und stärkere Wechsel des sozialen Netzwerkes im Alter betreffen v.a. den mittleren Kreis – oft bestehend aus Freunden und Verwandten - und den äußeren Kreis, der sich häufig aus Nachbarn, Dienstleistern und Arbeitskollegen zusammensetzt (Abbildung 2).

Abbildung 1: Idealtypischer Verlauf der Motive für soziale Interaktionen im Lebenslauf; eigene Darstellung nach [1]

 

 

Abbildung 2: Konzentrische Kreise zur Erhebung eines sozialen Netzwerkes nach dem Modell des sozialen Konvois; eigene Darstellung nach [2]

 

Multidirektionalität

Altern geht sowohl mit Gewinnen als auch mit Verlusten einher. Die Tatsache, dass sowohl zwischen den Dimensionen als auch innerhalb einer Dimension die Richtung und Stärke der Veränderungen variieren kann, wird als Multidirektionalität bezeichnet. So lassen auf der einen Seite Seh- und Hörvermögen häufig nach, auf der anderen Seite stellt sich oft ein Zugewinn an Gelassenheit ein. Während die Wahrnehmungsgeschwindigkeit im Alter deutlich abfällt, ist oft eine Zunahme im Bereich des Wortschatzes zu beobachten. Viele Ältere entwickeln eine positive Affektbilanz (negative Emotionen werden seltener, positive häufiger). Sie zeigen Stabilität in ihren Kontroll- und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (vgl. Kapitel 2.5.3.).

 

Interindividuelle Unterschiede

Interindividuelle Unterschiede beschreiben die Unterschiede zwischen Personen gleichen chronologischen Alters. Alternsprozesse weisen große interindividuelle Unterschiede auf. Ursache dafür sind die individuellen Ausprägungen von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren, einschließlich ihrer Interaktionen mit ökologisch-kontextuellen Bedingungen über den Lebenslauf hinweg. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass kognitive Leistungen im Alter mit der Komplexität sozialer Netzwerke zusammenhängen. Menschen, deren soziale Netzwerke einen Mix von sehr unterschiedlichen Interaktionspartnern (Partner und Partnerinnen, Kinder, andere Familienmitglieder, Nachbarn, ehemalige Arbeitskollegen und -kolleginnen, Freunde und Freundinnen, Mitglieder von Vereinen usw.) ausweisen, zeigen bessere kognitive Leistungen als jene, deren soziale Netzwerke homogener sind [3].

 

Plastizität

Plastizität (Formbarkeit) ist definiert als das Potential eines Organismus, seine Funktionen (Denken, Erleben und Verhalten) sowie die zugrundeliegenden (neuro-)physiologischen Strukturen aufgrund von Anforderungen und Möglichkeiten der Umwelt zu verändern. Plastizität hält über die Lebensspanne hinweg an, im Alter verringert sich jedoch ihr Ausmaß.

Wichtige Ergebnisse der Forschung sind folgende:

a) Trainingsprogramme können die geistige Leistungsfähigkeit von kognitiv gesunden Personen verbessern. Das gilt insbesondere für das Arbeitsgedächtnis, also jenen Bereich, welcher Informationen über kurze Zeit aufrechterhält und verarbeitet [4].

b) Wenn Ressourcen altersbedingt abnehmen, sind ältere Menschen durch Plastizität in der Lage, ihre Ziele und Aktivitäten an die veränderte Situation anzupassen, wodurch das emotionale Wohlbefinden weitgehend aufrechterhalten werden kann. So zeigen z.B. Studien, dass im Alter trotz abnehmender sexueller Aktivität eine hohe sexuelle Zufriedenheit beibehalten wird. Dieser Befund ist Ausdruck des Zufriedenheitsparadoxes [5].

Zufriedenheitsparadox (synonym: Wohlbefindensparadox): Trotz einer objektiven Verschlechterung der Lebenssituation im Alter (Funktionseinbußen und Verlusterfahrungen nehmen zu, Belastungen werden häufiger) bleibt die subjektive Bewertung der Lebenssituation, das subjektive Wohlbefinden, während des höheren Alters weitgehend stabil.

Das Zufriedenheitsparadox erklärt sich aus günstigeren Bewältigungsformen (z.B. Uminterpretation der Situation; Zielanpassung durch Akkommodation), die mit dem Alter zunehmen. Ebenso spielen Abwärtsvergleiche sozialer Art („anderen geht es viel schlechter als mir“) und temporaler Art („früher, im Krieg, als ich hungern musste, ging es mir viel schlechter“) eine Rolle, da sie zu einer positiveren Bewertung der eigenen, aktuellen Situation führen.

 

2.4.4.3. Theorien des Alterns

Die Frage, wie eine gelingende Anpassung an den Alternsprozess erreicht werden kann, führte zur Entwicklung unterschiedlicher Theorien. Folgende sind am intensivsten diskutiert und empirisch überprüft worden:

 

Disengagement-Theorie (E. Cumming & W.E. Henry)

Diese Theorie postuliert, dass eine gute Anpassung an das Alter über den Weg des Disengagements, verstanden als Rückzug älterer Menschen aus sozialen Rollen und Beziehungen, zustande kommt. Unterstellt wird eine funktionale Komplementarität zwischen Individuum und Gesellschaft: Der Wunsch nach Rückzug entspräche dem Bedürfnis der Gesellschaft, ihr fortlaufendes Funktionieren durch rechtzeitige Rollenübernahme zu gewährleisten. Der Prozess des Disengagements sei weder auf einen schlechten Gesundheitszustand noch auf Einkommenseinbußen im Alter zurückzuführen. Lebenszufriedenheit werde dadurch erlebt, dass durch den Rückzug die soziale Kontrolle etwa durch Kollegen und Kolleginnen und Vorgesetzte reduziert werde, was eine Befreiung von Alltagsnormen mit sich bringe. Die empirische Evidenz, die diese Annahmen stützt, ist unzureichend. In den meisten europäischen Ländern ist der sozial isolierte ältere Mensch nicht typisch für Personen im Ruhestand. Zudem hat sich gezeigt, dass eine Abnahme sozialer Beziehungen und Kontakte nicht zu einem erhöhten Wohlbefinden führt.

 

Aktivitätstheorie (R. Tartler)

Die Aktivitätstheorie ist der Gegenentwurf zur Disengagement-Theorie. Sie besagt, dass gute Lebenszufriedenheit im Alter nur durch fortgesetzte Aktivität, durch das Beibehalten eines aktiven Lebensstils, erreicht werden könne. Dem altersbedingten Wegfall sozialer Rollen (z.B. Berufstätiger) und sozialer Aktivitäten sei mit der Aufnahme neuer Aktivitäten (z.B. Ehrenamt) zu begegnen. Empirische Befunde bestätigen den Zusammenhang zwischen Aktivität und Zufriedenheit im Alter. Kritisch anzumerken ist, dass der Wegfall bestimmter sozialer Beziehungen, z.B. der Verlust des Partners oder der Partnerin, mitunter schwer oder gar nicht ersetzbar ist.

 

Selektive Optimierung mit Kompensation – Das SOK-Modell

(P.B. Baltes, M.M. Baltes)

Baltes & Baltes [6] erweiterten die bestehenden Theorien des Alterns, indem sie diese um drei universelle Prozesse der Entwicklungsregulation im höheren Alter ergänzten: Selektion (S), Optimierung (O) und Kompensation (K).

Selektion bedeutet Spezialisierung: weniger wichtige Ziele und Funktionsbereiche werden zugunsten von persönlich wichtigeren aufgegeben und so eine Bündelung vorhandener Potenziale und Ressourcen erreicht.

Optimierung beinhaltet den Erhalt und die Verbesserung von Kompetenzen in spezifischen Funktionsbereichen.

Mit Kompensation wird der Ausgleich verminderter Potenziale und Ressourcen beschrieben. Dem Modell zufolge ließen sich auf diese Weise mit dem Alter auftretende Verluste ausgleichen.

Als Beispiel für das Modell steht Arthur Rubinstein, einer der bedeutendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts, der noch mit über 80 Jahren Konzerte gab. Auf die Frage, wie ihm das immer noch so gut gelinge, antwortete er, dass er nicht mehr alle Stücke spiele, sondern die auswähle, die er besonders gut beherrsche (Selektion). Dann übe er die Stücke auch besonders gründlich (Optimierung). Und schließlich verlangsame er sein Tempo vor schnellen Passagen so, dass die nachfolgenden Läufe im Kontrast besonders schnell wirken (Kompensation).

 

Kompetenztheorie (E. Olbrich, P.B. Baltes)

Trotz der Abbauprozesse und Verlusterlebnisse ist, so die Prämisse des Kompetenzmodells, das Altern durch ein hohes Maß an verbleibenden Kompetenzen charakterisiert. Unter Kompetenzen werden dabei jene Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden, die zur Aufrechterhaltung bzw. Wiedererlangung eines selbstständigen und sinnerfüllten Lebens nötig sind. Man unterscheidet basale von erweiterten Kompetenzen. Zum Erleben von Lebensqualität, Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit tragen v.a. die erweiterten Kompetenzen bei. Das Kompetenzmodell ist v.a. für das höhere Alter bestätigt worden. Das hohe Alter hingegen ist durch eine deutliche Verringerung der Kompetenzen gekennzeichnet.

Basale Kompetenzen umfassen Selbstpflegeaktivitäten wie Waschen und Anziehen, Nahrungszubereitung und -aufnahme, Einkaufen, Fortbewegung und Benutzung von Verkehrsmitteln. Sie werden größtenteils routinemäßig ausgeführt, sind hochautomatisiert und für das tägliche Überleben wichtig.

Erweiterte Kompetenzen umfassen Freizeitaktivitäten, soziale Aktivitäten und komplexe instrumentelle Aktivitäten (Behördengänge, Bankgeschäfte, handwerkliche Tätigkeiten). Sie sind stark von individuellen Präferenzen, Motivationen und Zielen abhängig.

 

2.4.4.4. Lebenssituation von alten Menschen in Deutschland

Soziale Integration

Mit steigendem Alter erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, allein zu leben und allein zu sein. Häufiges Einsamkeitserleben ist v.a. bei Personen im hohen Alter anzutreffen.

 

Alleinleben: Leben im Ein-Personen-Haushalt

Alleinsein: Zeit (in Minuten und Stunden), die ein Mensch im Alltag ohne andere Personen verbringt; Alleinsein kann vom Einzelnen sowohl positiv als auch negativ erlebt werden

Einsamkeit: Das negativ erlebte Alleinsein und das damit verbundene unangenehme Gefühl der Verlassenheit und des Kontaktmangels

Wichtige Risikofaktoren für Einsamkeit im Alter sind die folgenden:

  • Geringes Einkommensniveau
  • Leben ohne Partner/ Partnerin
  • Sehr kleiner Bekanntenkreis
  • Deutlich eingeschränkte Selbstständigkeit im Alltag
  • Schlechter Gesundheitszustand

Einsamkeit kann klinisch relevant werden. So erleben z.B. ältere Patienten, die einsam sind, chronische Schmerzen oft stärker als sozial gut eingebettete Personen. Hintergrund ist, dass sowohl Einsamkeit als auch Schmerz denselben Bestandteil der Schmerzmatrix, den anterioren Gyrus cinguli, aktivieren. Zudem kann Einsamkeit den Verlauf von Demenz beschleunigen. Sie greift zwar nicht in die Pathologie der Alzheimer-Erkrankung ein, trägt aber zur mangelnden Beanspruchung des Gehirns durch fehlende soziale Interaktionen bei und wirkt sich damit auf dessen Leistungsfähigkeit aus.

 

Ein im ärztlichen Alltag praktikables Instrument zur Einschätzung des Einsamkeitsrisikos von Patienten ist die Three Item Loneliness Scale.

Tabelle 1: Three Item Loneliness Scale; eigene Darstellung nach [7]

Nr.

Item

Selten

(0)

Manchmal

(1)

Oft

(2)

1

Wie oft haben Sie das Gefühl, dass Ihnen ein anderer Mensch fehlt?

 

 

 

2

Wie oft fühlen Sie sich verlassen?

 

 

 

3

Wie oft fühlen Sie sich von anderen isoliert?

 

 

 

 

Multilokale Mehrgenerationsfamilie

Die multilokale Mehrgenerationsfamilie ist eine Familienform, in der die einzelnen Generationen räumlich getrennt voneinander leben. Diese ist aktuell für die meisten alten Menschen typisch. Trotz teils beträchtlicher Wohnentfernung haben alte Eltern und ihre erwachsenen Kinder häufig Kontakt miteinander und stehen sich emotional nah.

Die soziale Unterstützung zwischen den Generationen zeigt ein Muster, das als reziprokes Kaskadenmodell bezeichnet wird: Materielle Ressourcen (Geld- und Sachgeschenke) innerhalb einer Familie fließen häufiger von der älteren zur jüngeren Generation. Dafür wird instrumentelle Unterstützung (z.B. Hilfe im Haushalt) eher von der jüngeren Generation für die ältere geleistet als umgekehrt.

 

Einkommen und Altersarmut

Ein Standardmaß zur Erhebung von Armut ist die Armutsgefährdungsquote (vgl. Kapitel 2.6.2.).

Sie ist definiert als der Anteil jener Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60% des Bundesmedians des Äquivalenzeinkommens der Bevölkerung in Privathaushalten.

 

Im Jahr 2018 betrug die Armutsgefährdungsquote in Deutschland 15,5% [8]. Sie unterscheidet sich nach Altersgruppen.

 

Tabelle 2: Armutsgefährdungsquote nach Altersgruppen (Deutschland, 2018); eigene Darstellung nach [8]

25–49 Jahre

50–64 Jahre

65 Jahre und älter

14,0%

11,7%

14,7%

 

Armut im Alter weist eine Besonderheit auf: Sie ist in der Regel, anders als in jüngeren Altersgruppen, nicht mehr umkehrbar. Längerfristig wird ein Anstieg der Altersarmut erwartet, insbesondere bei Geringverdienenden mit längeren Phasen von Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit, bei Älteren mit Migrationshintergrund, bei alleinlebenden alten Frauen sowie bei chronisch kranken Menschen.

 

2.4.4.5. Gesundheit und Krankheit im Alter

Bei der Behandlung von Patienten im Alter ist eine Reihe von Besonderheiten zu berücksichtigen.

 

Normales und pathologisches Altern

Altern selbst ist nicht zwangsläufig mit Krankheit verbunden, allerdings steigt das Risiko für Erkrankungen mit zunehmendem Alter an (vgl. Kapitel 2.7.3.). Zur Abgrenzung der natürlichen Alternsprozesse von Erkrankungen im Alter wird zwischen normalem und pathologischem Altern unterschieden.

Normales Altern: Darunter versteht man Veränderungsprozesse, die gut kompensierbar sind, so dass Selbstständigkeit und Wohlbefinden im Alter weitgehend beibehalten werden können. Normales Altern ist nicht der durchschnittliche Gesundheitszustand von Personen gleichen chronologischen Alters.

Pathologisches Altern: Es bezieht sich auf jene körperlichen und psychischen Einschränkungen, die durch schwere und chronische Erkrankungen bedingt sind und nicht mehr kompensiert werden können (z.B. Demenz, Tumorerkrankungen, Parkinson-Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium). Pathologisches Altern wird mit zunehmendem Alter häufiger.

Mit zunehmendem Alter der Patienten wird es für diese selbst, aber auch für Angehörige und Ärzte schwieriger, zwischen normalen Begleiterscheinungen des Alterns und behandlungsbedürftigen Erkrankungen zu differenzieren. Damit verbunden ist die Gefahr, Krankheiten zu übersehen. So ist im Arzt-Patient-Gespräch bei älteren Patienten eher als bei jüngeren zu beobachten, dass Schmerzen nicht spontan berichtet werden. Oft bewerten ältere Patienten den Schmerz als unvermeidlich und als zum Alter dazugehörend. Auch Depressionen im Alter können übersehen werden, vor allem dann, wenn Symptome wie z.B. Schlafprobleme, sozialer Rückzug und mangelnde Lebensfreude dem normalen Alternsprozess zugeschrieben werden.

In fast allen Ländern steigt die Suizidrate im Alter an. Eine Besonderheit im Alter ist indirektes suizidales Verhalten (Verweigern von Nahrungsaufnahme und Medikamenteneinnahme; Nichtbefolgen ärztlicher Anweisungen).

Risikofaktoren für Suizidalität im Alter:

  • Suizidversuche in früheren Lebensphasen
  • Affektive Störungen (v.a. Depression)
  • Multimorbidität
  • Funktionelle Beeinträchtigungen
  • Chronische Schmerzen
  • Einsamkeit
  • Die Wahrnehmung begrenzter Lebenszeit
  • Das Gefühl, anderen Menschen zur Last zu fallen

Körperliche und psychische Erkrankungen

Häufige körperliche Erkrankungen im Alter sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z.B. Bluthochdruck, Herzinsuffizienz, Schlaganfall), Krankheiten des Bewegungsapparates (z.B. Arthrose, Arthritis, Rückenbeschwerden) und Tumorerkrankungen. Die häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter sind Depressionen und Demenzen. Kognitive Einschränkungen können, insbesondere wenn durch sie die verbale und nonverbale Kommunikation gestört sind, die Diagnostik erschweren und inadäquate Behandlungsverläufe nach sich ziehen.

 

Verlauf und Prognose von Erkrankungen

Mit dem Alter steigt die Prävalenz chronischer Erkrankungen mit langsamem und schleichendem Verlauf an (vgl. Kapitel 2.7.3). Sie lassen sich oft nicht vollständig heilen und ziehen eine andauernde oder wiederkehrende Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nach sich.

Gründe für den Anstieg chronischer Erkrankungen im Alter:

  • Zunahme altersphysiologischer Prozesse (z.B. erhöht die Abnahme der Knochendichte und der Muskelkraft das Risiko eines Oberschenkelhalsbruches)
  • Kumulation von Risikofaktoren im Lebensverlauf (z.B. erhöhen Rauchen und Übergewicht das Risiko für Hypertonie)
  • Latenzzeiten (das klinisch symptomfreie Intervall zwischen Schädigung und dem Auftreten von Symptomen) sind oft lang (z.B. verschiedene Krebserkrankungen)
  • Folgeerkrankungen von bereits im frühen Lebensalter ausgebrochenen Erkrankungen (z.B. Polyneuropathien als Folge von Diabetes mellitus)

Bei Krankheiten im Alter sind veränderte, oft unspezifische Symptome, längere Erkrankungs- und Erholungsverläufe sowie spezifische Reaktionen auf Medikamente häufig. Aus ärztlicher Sicht muss berücksichtigt werden, dass gerade bei älteren Patienten deren lebenslange Vorerfahrungen mit Krankheit und Behandlungseffekten das Ausmaß der Adhärenz (vgl. Kapitel 4.3.) mit bestimmen. Diese sollten daher im Gespräch mit den Patienten thematisiert werden.

 

Multimorbidität und Multimedikation

Multimorbidität ist das gleichzeitige Auftreten mehrerer chronischer Erkrankungen. Sie nimmt im Alter zu. Die Erkrankungen können sich gegenseitig beeinflussen und verschlechtern (z.B. Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes mellitus). Multimorbidität geht in der Regel mit häufigen Arztkontakten und Krankenhausaufenthalten einher. Folge der Multimorbidität ist oft die gleichzeitige medikamentöse Therapie mit vielen verschiedenen Arzneistoffen, die Multimedikation. Dadurch steigt das Risiko unerwünschter Medikamenteninteraktionen.

 

Funktionale Gesundheit

Infolge altersphysiologischer Veränderungen nehmen im Alter Beeinträchtigungen der funktionalen Gesundheit zu. Funktionale Gesundheit umfasst das Ausmaß, in dem ein Mensch in der Lage ist, Alltagsanforderungen zu erfüllen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Auch wenn eine vollständige Ausheilung meist nicht mehr gegeben ist, wünschen sich Patienten größtmögliche funktionale Gesundheit. Für Ärzte ist mit der ICF-Klassifikation (International Classification of Functioning, Disability and Health) ein geeignetes Instrument vorhanden, um diese einschätzen zu können. Dadurch wird eine an den Bedürfnissen und Zielen des Patienten orientierte Priorisierung der Behandlungsziele möglich. Zudem können gesundheitliche Risiken rechtzeitig erkannt und verringert werden (z.B. Ermittlung des Sturzrisikos).

 

Subjektive und objektive Gesundheit

Unter der subjektiven Gesundheit wird die individuelle Bewertung des Gesundheitszustandes durch den Patienten selbst verstanden. In die Bewertung gehen neben dem körperlichen Gesundheitszustand auch funktionale Gesundheit, die psychische Gesundheit, das Gesundheitsverhalten und das Wohlbefinden sowie erfolgte bzw. antizipierte gesundheitliche Entwicklungen mit ein.

In der objektiven Gesundheit drückt sich die Bewertung des Gesundheitszustandes durch den Arzt aus. Sie basiert auf Anamnese, körperlicher Untersuchung und Auswertung von Laborparametern bzw. bildgebenden Verfahren. Der Begriff soll nicht nahelegen, dass ärztliche Beurteilungen nicht ebenfalls subjektiven Urteilsprozessen unterliegen, sondern ist als „Außensicht“ gegenüber der subjektiven Sicht („Innensicht“) des Patienten zu verstehen.

Objektive und subjektive Gesundheit müssen nicht notwendigerweise übereinstimmen. Mit dem Alter steigt die Bedeutung der subjektiven Gesundheit. Im Vergleich zur objektiven Gesundheit sagt sie zuverlässiger die gesundheitsbezogene Lebensqualität, die Lebenserwartung sowie den Genesungsverlauf nach Krankheit voraus. Sie sollte daher in der ärztlichen Anamnese immer mit erhoben werden.

 

Gesundheitliche Wirkung von Altersbildern

Altersbilder sind individuelle und kollektive Vorstellungen vom Alter, Altern und von den Alten. Sie können sowohl positiv als auch negativ getönt sein. Individuelle Altersbilder werden auch als Altersstereotype bezeichnet.

In experimentellen Studien mit älteren Menschen hat sich gezeigt, dass die unterschwellige Darbietung von Reizen, die negative Altersstereotype beinhalten, kurzfristig zu physiologischen Stressreaktionen sowie schlechteren Gedächtnisleistungen führt. In Längsschnittstudien wurde deutlich, dass Personen mit eher negativen Altersstereotypen Jahre später ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie schlechtere Gedächtnisleistungen aufwiesen als Personen mit eher positiven Altersstereotypen. Zudem waren sie seltener körperlich aktiv.

Die gesundheitlichen Folgen von Altersstereotypen werden sowohl über physiologische Stressreaktionen als auch über gesundheitsrelevante Verhaltensweisen vermittelt.


References

[1] Carstensen LL. Evidence for a life-span theory of socioemotional selectivity. Curr Dir Psychol Sci. 1995 Oct;4(5):151-156. DOI: 10.1111/1467-8721.ep11512261
[2] Antonucci T. Measuring social support networks: Hierarchical mapping technique. Generations. 1986;10(4):10-12.
[3] Ellwardt L, Van Tilburg TG, Aartsen MJ. The mix matters: complex personal networks relate to higher cognitive functioning in old age. Soc Sci Med. 2015 Jan;125:107-15. DOI: 10.1016/j.socscimed.2014.05.007
[4] Mewborn CM, Lindbergh CA, Stephen Miller L. Cognitive Interventions for cognitively healthy, mildly impaired, and mixed samples of older adults: A systematic review and meta-analysis of randomized-controlled trials. Neuropsychol Rev. 2017 12;27(4):403-439. DOI: 10.1007/s11065-017-9350-8
[5] Müller B, Nienaber CA, Reis O, Kropp P, Meyer W. Sexuality and affection among elderly German men and women in long-term relationships: results of a prospective population-based study. PLoS ONE. 2014;9(11):e111404. DOI: 10.1371/journal.pone.0111404
[6] Baltes PB, Baltes MM. Optimierung durch Selektion und Kompensation: Ein psychologisches Modell erfolgreichen Alterns. Zeitschrift für Pädagogik. 1989 Jan;35(1):85-105.
[7] Hughes ME, Waite LJ, Hawkley LC, Cacioppo JT. A short scale for measuring loneliness in large surveys: Results from two population-based studies. Res Aging. 2004;26(6):655-672. DOI: 10.1177/0164027504268574
[8] EU-SILC [Internet]. Nettoäquivalenzeinkommen nach Altersgruppen: Abruf aus der Genesis Online-Datenbank des Statistischen Bundesamts; [cited 2018 Jan 17]. Available from: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/419433/umfrage/armutsgefaehrdungsquote-in-deutschland-nach-alter/