Cover: Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Online Lehrbuch der Medizinischen Psychologie und Medizinischen Soziologie

Renate Deinzer, Olaf von dem Knesebeck (Hrsg.)


5.4.1. Psychotherapeutische und psychologische Tätigkeitsfelder in der Medizin: ein Überblick

 Bernhard Strauß 1


1 Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie (IPMPP), Universitätsklinikum Jena, Jena, Germany

Die Indikationsstellung zu einer psychologischen Intervention bei körperlich Kranken sollte sich im Einzelfall am jeweiligen Ausmaß der psychosozialen Belastung, an der individuellen, familiären und beruflichen Lebenssituation, an der Phase der Krankheitsbewältigung sowie an der Motivation und Behandlungsbereitschaft des Patienten orientieren. Unabhängig vom Anlass, der Indikationsstellung sowie der Art der Intervention hängt der Erfolg psychologischer Interventionen bei körperlich Kranken entscheidend von der Motivation der Patienten ab. Dabei ist die Psychotherapie-Motivation als ein mehrdimensionales Konstrukt zu betrachten, das u.a. Aspekte wie Leidensdruck, Hoffnung auf ein gutes Behandlungsergebnis, Wissen über die Behandlung, Einstellung zur Behandlung, Ausmaß an Eigeninitiative, Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit, Bereitschaft zur Änderung des Lebensstils sowie Gesundheits- und Krankheitskonzepte umfasst. Einzelne Patienten mit körperlichen Erkrankungen weisen häufig ein somatisch orientiertes Krankheitskonzept und eine passive, an medikamentöser Therapie orientierte Behandlungserwartung auf. Das Transtheoretische Modell von Prochaska und DiClemente [1]  (vgl. Kap. 5.1.) bietet auch für die psychologische Interventionen bei körperlich Kranken angestrebte Verhaltensänderungen bei bestehenden gesundheitlichen Risikoverhaltensweisen einen sinnvollen Zugang. Es berücksichtigt bei der Interventionsplanung konsequent das Ausmaß der zum jeweiligen Zeitpunkt individuell bestehenden Veränderungsbereitschaft.

Zentrale Zielperspektiven psychologischer Interventionen bei körperlich Kranken sind nicht die körperlichen Erkrankungen selbst, sondern die psychosozialen Krankheitsfolgen und die Förderung der Krankheitsverarbeitung. Hier sind folgende Perspektiven von Bedeutung:

  • Probleme in der Krankheitsbewältigung: Selbstwertprobleme, mangelnde Zukunftsperspektive, Neuorientierung des Lebensentwurfs

  • Problematisches Krankheitsverhalten: geringe Compliance, gesundheitsschädigende Verhaltensmuster

  • Partnerschafts und familiäre Probleme: Probleme in der Partnerschaft und Familie, sexuelle Probleme, Probleme mit der Rollenidentität

  • Psychische Symptome: schwer zu bewältigende psychische Reaktionen auf die Diagnosestellung, bei der Vorbereitung auf diagnostische und therapeutische Maßnahmen

  • Psychische Syndrome und Störungen: Anpassungsstörungen, Angststörungen, Depressionen

  • Probleme mit Rollenwechsel und Statusverlust, Probleme mit sozialen Folgen und mit der beruflichen Reintegration

Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Implementierung psychotherapeutischer Interventionen im Zusammenhang mit körperlichen Erkrankungen haben sich in der Vergangenheit überwiegend auf jene Störungsbilder konzentriert, die durch eine besonders ausgeprägte psychische Belastung charakterisiert sind. Hierzu gehören u.a. Diabetes, Krebserkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen, Niereninsuffizienz, Rheuma oder entzündliche Darmerkrankungen, Multiple Sklerose, chronischer Schmerz, Migräne, Neurodermitis, Ekzeme, Psoriasis und Berufsdermatosen.

Die Vielfalt der Krankheitsfolgen bei körperlich chronischen Erkrankungen erfordert eine entsprechende Vielfalt in der Gestaltung psychologischer Interventionen. Die in Tabelle 1 dargestellte Systematisierung versucht, dem gerecht zu werden. Die Systematik unterscheidet verschiedene Zielpopulationen, Versorgungsmodelle, Indikationen, Behandlungsmodelle und -settings. Die einzelnen Komponenten des Systems sind vielfältig kombinierbar.

 

Tabelle 1: Versuch einer Systematisierung psychologischer Interventionen bei (chronischen) körperlichen Erkrankungen (nach [2])

Zielpopulation

Patienten mit Erkrankungen ohne psychische Komorbidität mit spezifischen Belastungen

Patienten mit Erkrankungen ohne psychische Komorbidität mit ausgeprägten Belastungen

Patienten mit psychischer Komorbidität

 

 

Versorgungsmodell

 

Extern

Konsiliar-Modell

Integriert (z.B. Liaisonmodelle

 

 

Indikation

Allgemeine Ansätze (z.B. Umgang mit chronischer Krankheit)

Krankheitsspezifische

Patientenschulung (Psychoedukation)

Psychotherapie psychischer Krisen als Krankheitsfolge

Spezifische Ansätze (z.B. OP-Vorbereitung, Entspannung)

Bewältigungsorientierte

Ansätze

Psychotherapie psychischer Komorbidität (primärer psych. Störungen)

 

Behandlungsmodell

 

Kognitiv-Behavioral

Personenzentriert

Psychodynamisch

 

 

Hypnotherapeutisch

Systemisch

Integriert

 

 

Setting

 

Einzel

Gruppe

Paar/Familie

 

 

Weitere

Rahmenbedingungen

Dauer, Frequenz, Kostenübernahme, Zielsetzung

Auf der zweiten Ebene der Systematik findet sich das Versorgungsmodell, also die Organisation psychotherapeutischer Angebote für körperlich Kranke innerhalb und außerhalb einer Klinik oder Praxis. In der Bundesrepublik Deutschland besteht zumindest an universitären (zunehmend auch an allgemeinen) Krankenhäusern die Möglichkeit eines breit gefächerten Konsiliar-, manchmal auch eines integrierten Liaisondienstes durch die Verfügbarkeit psychosomatisch-psychotherapeutischer und medizinpsychologischer Einrichtungen.

Zur Differenzierung von Interventionsansätzen bietet sich ein stufenweises Modell an, das von unspezifischen Ansätzen auf der Basis allgemeiner psychosozialer Unterstützung und Gesundheitsförderung für unterschiedliche Patientengruppen bzw. Krankheitsphasen bis zur Psychotherapie primär psychischer Störungen bei Vorliegen einer körperlichen Erkrankung reicht. Auf der untersten Stufe dieses Modells sind eine Vielzahl von Unterstützungsmaßnahmen anzusiedeln, wie z. B. sozialpädagogische Hilfen, die Vermittlung von Selbsthilfegruppen für die Patienten und/oder deren Angehörige und Familien. Spezifischere Ansätze umfassen systematische Vorbereitungen auf medizinische Eingriffe und den Einsatz entspannungsfördernder Maßnahmen, zum Beispiel im Kontext angstbesetzter Eingriffe. Auf dieser Ebene sind auch Unterstützungsmaßnahmen anzusiedeln, die psychosoziale Probleme fokussieren, welche auf der Basis von Unzulänglichkeiten des medizinischen Systems entstehen, also im weitesten Sinne ‚iatrogen‘ sind. Hier wurden in der Vergangenheit zahlreiche Programme zur Beratung, Gesundheitsförderung und Schulung von chronisch Erkrankten entwickelt und in einigen Bereichen der medizinischen Versorgung (z.B. in der Medizinischen Rehabilitation) auch flächendeckend implementiert (siehe nachfolgenden Abschnitt). Über solche Schulungsprogramme hinaus, gehen meist aufwändigere psychologische Interventionsansätze, die auf individualisierte bewältigungsorientierte Verhaltensänderungen zielen und sich dabei an Prinzipien allgemeiner Psychotherapie orientieren.

Mittlerweile gibt es in vielen spezifischen Bereichen der Medizin spezifische Angebote an psychologischen Interventionen, die oftmals Teil komplexer Behandlungen darstellen. Eine Auswahl dieser Bereiche bzw. Angebote, die von besonderer Relevanz für die Medizinische Psychologie sind, ist in Tabelle 2 zusammengestellt. Im nachfolgenden Kapitel wird exemplarisch die Psychoonkologie als mittlerweile fester Bestandteil der Krebsbehandlung ausführlicher dargestellt.

Tabelle 2: Wichtige Anwendungsfelder psychologischer Interventionen in der Medizin: Spezifische Belastungen und mögliche Interventionen

Medizinischer Bereich

Belastungen

Mögliche Interventionen

Notfallmedizin

Notfallsituationen gekennzeichnet durch Unausweichlichkeit, Unvorhersehbarkeit und dramatisches Potential; gelegentliche Folgen:

psychischer Schock, Formen von Traumafolgestörungen

supportive Gespräche mit Informationsvermittlung, Psychoedukation, Vermittlung anderer Kommunikationsformen (z.B. bei Intubation), Einbeziehung von Angehörigen und psychosozialen Diensten und des ärztlichen und pflegerischen Personals im Hinblick auf Belastungen

 

Intensivmedizin

Reizmonotonie, Bewusstseinstrübung (eventuell Durchgangssyndrom), Verlust der Intimsphäre, Informationsdefizite und Isolation

Transplantationsmedizin

 

je nach Behandlungsphase unterschiedliche Belastungen (chronische Krankheit, Funktionseinschränkungen, Angst und Depression als Begleitsymptomatik);

Wartezeit auf ein Organ;

Lebensqualität nach Transplantation inklusive Nachsorge:

starke Veränderungen des Körpererlebens, spezifische Probleme bei Lebendspenden

diagnostische Aufgaben, supportive Gespräche, Aufklärung und Stabilisierung, Bewältigungsoptimierung

 

Humangenetische Beratung

 

Unklarheiten, Informationsdefizite, Fehleinschätzungen von Untersuchungsergebnissen im Hinblick auf das Erkrankungsrisiko (z.B. bei Brustkrebs), Krankheitsbefürchtungen und Erwartungen, Beratung bei spezifischen schwerwiegenden Erkrankungen (wie z.B. Morbus Huntington)

Psychoedukation; Notwendigkeit der Beratungen bei pränataler Diagnostik

Reproduktionsmedizin

 

Problemfelder der ungewollten Kinderlosigkeit, Stressbewältigung im Zusammenhang mit Behandlungen und Behandlungserwartungen (Wartezeiten)

 

Interventionsziele: bessere Bewältigung der Kinderlosigkeit, Entscheidungshilfen, Paarkonflikte und Kommunikation innerhalb der Partnerschaft, Akzeptanz der Therapie und ihrer Ergebnisse, Perspektivenentwicklung und -findung

 

 


References

[1] Prochaska JO, DiClemente CC. The transtheoretical approach. In: Norcross JC, Goldfried MR, editors. Handbook of psychotherapy integration. 2nd ed. Oxford; New York: Oxford University Press; 2005. p. 147-71. DOI: 10.1093/med:psych/9780195165791.003.0007
[2] Strauß B. Psychotherapeutische Interventionen bei körperlichen Erkrankungen – Versuche einer Systematisierung. In: Strauß B, editor. Psychotherapie bei körperlichen Erkrankungen. Göttingen: Hogrefe; 2002. p. 11-22.